1983
Wir werden uns leiden-schaftlich lieben
Es spielen
Daniela Bohde, Bettina John
Regie
Elisabeth Bohde
Bühnenbild & Kostüme
Ensemble
Premierendatum und -ort
September 1983
Vorstellungsdauer
80 Minuten
Vorstellungszeitraum
1983-1984
Zahl der Vorstellungen
80
Fakten
Bettina und Daniela reden über die Liebe. Sie haben sich auf dem Ball der einsamen Herzen kennengelernt und gehen nun gemeinsam auf die Suche nach der großen Liebe, der guten Partnerschaft, dem kurzen Flirt. Sie probieren sich als Partnerinnen der Traummänner aus, machen sich schön, ziehen sich an und aus, schreiben und beschreiben, tanzen und trauern, reden miteinander und gegeneinander und verheddern sich zusehends in die Widersprüche zwischen Kitsch + Wahrheit, Lächerlichkeit + Betroffenheit, Selbstständigkeit + Hingabe, Wunsch + Wirklichkeit, Traum + Erwartung.
Ankündigungstext
Die erste größere Inszenierung von Elisabeth Bohde in Flensburg entsteht inspiriert durch einen Workshop zu Geschlechter-Rollenbildern, den Elisabeth auf dem Scheersberg angeboten hatte. Hier wird die weibliche Perspektive ins Zentrum gerückt. Gemeinsam mit den Spielerinnen Bettina John und Daniela Bohde entwickelt Elisabeth eine Inszenierung, die − aufbauend auf autobiografischem Material der Spielerinnen − das Rollenverhältnis und die Sicht der Geschlechter aufeinander selbstkritisch unter die Lupe nimmt.
Ausgangspunkt ist der an sich selbst beobachtete Widerspruch, einerseits nach einem verständnisvollen und selbstkritischen Mann zu suchen, andererseits jedoch immer in die Macho-Typen verliebt zu sein. „Es gab einen feministischen Ansatz, aber wir wollten auch eigene Widersprüche offenlegen. Unsere Leidensbereitschaft.“ (Elisabeth Bohde).
Eigenen Widersprüchen auf der Spur
„Die Klamotten (Kostüme) waren alle geklaut.“
Zitat Elisabeth
Aus dem im Studium geschärften Blick für die soziologische Dimension des Theaters resultiert ein bewusster Umgang mit der Positionierung der Zuschauer:innen im Theaterraum: Für diese Thematik wurde ein Bühnensetting gewählt, das Männer und Frauen auf gegenüber liegenden Seiten der Spielfläche platziert. Diese ist eine Art Laufsteg mit weißem Boden. Sowohl Frauen als auch Männer beobachten sich dabei, wie die jeweils anderen das Spiel betrachten und auch die sich auf der Bühne umziehenden Spielerinnen wahrnehmen.
Die Spielerinnen agieren miteinander, aber auch mit dem Publikum. So wird beispielsweise ein Mann im Publikum mit einem kritischen Text direkt adressiert. (Die Spielerin hält dabei zwei Eier in der Hand.)
Die Kostüme bestehen aus rot eingefärbter Alltagskleidung. Auf dem Laufsteg sind ein Tisch und zwei Stühle platziert, an den Enden befinden sich jeweils ein Spiegel sowie ein Garderobenständer mit den Kostümen. In einer Szene werden zwei Humphrey-Bogart-Papp-Aufsteller (als Inbegriff des Macho-Männerbildes) angespielt.
Unter Beobachtung
Die Entstehung der Produktion nimmt Einflüsse zahlreicher Workshops (u. a. auf dem Scheersberg) auf, an denen Elisabeth seit ihrer Jugend teilnimmt. Auch die Aufbruchstimmung der frühen 1980er Jahre, aus denen sich die Gründungsimpulse vieler freier Theater und Theatergruppen speisen, schlägt sich in dem Inszenierungsansatz nieder.
Auf der Suche nach einer anderen, besseren Gesellschaft gilt es Themen und Material intensiv zu durchdringen. Intensive körperliche Erfahrungen und die Erforschung der darstellerischen Mittel über vielerlei Aufgaben und Annäherungswege rücken zunächst den individuellen Zugriff und die subjektive Perspektive ins Zentrum der Arbeit, um in einem nächsten Schritt übertragbare, allgemeingültigere Phänomene erfahrbar zu machen.
Die selbstbestimmte Themen- und Materialwahl und die ihr folgende intensive Recherche (wie hier beispielsweise über versendete Fragebögen, körperliche Erforschung, etc.) kann auch heute noch als Charakteristikum der freien darstellenden Künste bezeichnet werden: eine Haltung der Selbstermächtigung zum Theater und zur gesellschaftskritischen und politischen Botschaft. „In dieser Zeit entstand eine neue Art des Denkens und Fühlens im Sinne einer politischen Haltung“, sagt Elisabeth in einem Gespräch. „Wir hatten die Idee, dass man mit dieser Tätigkeit politisch wirksam werden kann.“
Ein Kind der 80er
Die Produktion wird sehr erfolgreich, tourt ein Jahr in Deutschland und bringt es auf 80 Vorstellungen. „Wir waren eingeladen ins Rahmenprogramm des West-Berliner Theatertreffens (Mai 1984, Anmerkung Redaktion) und hatten keine Ahnung, was das ist“, stellt Elisabeth heute fest und macht auch damit deutlich, dass Vorbilder nicht in der Stadt- und Staatstheaterszene gesucht wurden und es kein Interesse an diesen ‘dem System zugehörigen’ Strukturen gab.
Stippvisite beim Theatertreffen
Fotos
Durch die oftmals schonungslose Auseinandersetzung mit sich selbst, mit gängigen Verhaltens- und Denkmustern und gesellschaftlichen Prägungen entsteht ein Resonanzraum, der Ausgangspunkt und Grundlage des Austausches mit dem Publikum wird. Dieser Resonanzraum prägt wiederum die weitere Entwicklung der Produktion. „Für uns ist eine Inszenierung nie mit der Premiere abgeschlossen. Ihre Gesamtheit entsteht erst in Beziehung und Interaktion mit dem Publikum.“ (Torsten Schütte)
Der autobiografische ‘Erfahrungsansatz‘ wird für die Arbeit der Theaterwerkstatt Pilkentafel elementar. Die Auseinandersetzung mit internationalen Theaterlehrern auf dem Scheersberg, das an einem klar poetischen Theater orientierte Studium in Frankreich und systematischer Unterricht in zeitgenössischem Tanz haben völlig neue Arbeitsweisen und Zugriffe zur Folge und bilden das entscheidende Bezugssystem. „Das deutsche Stadt- und Staatstheater hat uns nie interessiert“, sagt Elisabeth Bohde, die ihre Ausbildung in Frankreich (Aix-en-Provence) absolvierte und neben den Workshoperfahrungen auf dem Scheersberg Tanzunterricht in Frankreich bei Odile Duboc prägend nennt.
Die Wiege des freien Theaters
Die gesamte Produktion entsteht − wie viele spätere Inszenierungen auch − über Aufgaben, die Elisabeth den Performerinnen stellt und darauf aufbauenden Improvisationen. Neben dem Erforschen der Körperlichkeit verschiedener Frauentypen und einer daraus entwickelten Choreografie werden das Schreiben von Liebesbriefen, das Erfinden von Geschichten und das Aufgeben von Kontaktanzeigen Teil der Stückentwicklung. „Ich habe vor allem die Aufgaben gestellt und dann alles in eine Reihenfolge und einen Rhythmus gebracht. Die Texte haben alle für sich erarbeitet. Es war definitiv nicht mein Stück, das haben wir zusammen gemacht.“
Beispiele für gestellte Aufgaben:
Aufgabe: Schreiben fiktiver Liebesbriefe. Hieraus wurde die erste Szene entwickelt: Eine liest ihren Brief, während eine Andere Bausteine stapelt. Sobald diese umfallen, werden die Rollen getauscht.
Aufgabe: Collage aus Groschenromanen als Softpornovarianten
Aufgabe: Spiel mit Beschwerden über Anmachen und Überlegungen dazu, wie man den Spieß umdrehen könnte.
Aufgabe: Ein Mann für … (... einen Sonntagsausflug, eine heiße Nacht, ein gemütliches Frühstück etc.) – endete in einer Art Vergewaltigungsphantasie und Erfindungen von Traum-Liebesgeschichten.
Kollektive Textentwicklung
Elisabeth gibt auf dem Scheersberg unter dem Titel ‘Ball der einsamen Herzen’ einen Workshop. Der Titel ist an Pina Bauschs Arbeit ‘Kontakthof’ angelehnt . Ausgelöst durch diese Workshop-Erfahrung entsteht die Idee für eine Inszenierung. Fragebögen zu den Erwartungen an einen Traummann und die ideale Beziehung werden an Freundinnen verschickt. Bei der Auswertung fällt auf, dass die Idee weit verbreitet scheint, dass die wirklich große Liebe eine unglückliche sein muss.