2009
Ein Hut, ein Stock, ein Rettungs-schirm
Es spielen
Johanna Stapelfeldt, Torsten Schütte, Lotta Bohde, Maren Seidel, Bele Wollesen, Elisabeth Bohde, Tobias Gnüchtel (Musik)
Regie und Text:
Elisabeth Bohde
Bühnenbild
Ensemble
Ausstattung+Kostüme
Roy Spahn, Gesine Hansen
Criservia-Design
Günter Aicher
Premierendatum, -ort
September 2009 in der Theaterwerkstatt Pilkentafel
Vorstellungsdauer
1h30
Vorstellungszeitraum
2009
Zahl der Vorstellungen
22
Fakten
Barbara Fürst schreibt in ihrer Kritik im Flensburger Tageblatt vom 12. September 2009:
„Überbordend wird die ‚Präsentation‘ allmählich zum Spektakel, in das sich nun auch aus dem schwankenden Untergrund drei Banker (Lotta Bohde, Maren Seidel, Bele Wollesen) einmischen. Mit Rettungsschirm und Melone, Schadenfreude zur Seite, ein süffisantes Lächeln auf den Lippen, verkünden sie: ‚So eine schöne Krise! Da war alles dabei‘. Nicht nass zu werden, ist ‚systemrelevant‘.
‚Die Krise ist da. Sie ist immer eine Chance. Das wissen wir alle − wissen wir es alle?‘ Von herb-bizarrer Eindringlichkeit zeigt Torsten Schütte als ‚Medium‘ kollektive Krisen-Gefühle. Im fleischfarbenen Trikot wird er zum ‚Krisenkörper‘, nehmen Wut, Angst, Bestätigung, Ratlosigkeit und Heiterkeit in wechselnder Folge ‚Besitz‘ von ihm. Die Anlehnung an esoterische Bewältigungs-Methoden ist Programm. Abrupte Unterbrechungen des Übertreibungsreigens sind reale Börsennachrichten. …
Die Pilkentafel hat mit ‚Ein Hut, ein Stock, ein Rettungsschirm‘ ein bemerkenswertes Stück über den realen Irrsinn auf die Bühne gebracht, bei dem sich nicht nur dort mehrfach ‚Verk(r)opfung‘ einstellt.“
„Ein bemerkenswertes Stück“
Für die Befragungen auf dem Südermarkt wurde ein kleiner Raum aufgebaut, ohne Genehmigung. Ein sehr engagierter Polizist kam und verbot den feststehenden Raum, woraufhin Johanna Stapelfeldt entgegnete: „Sehen Sie, dass ist eben der Unterschied: Sie sind dazu da, dass Regeln eingehalten werden und wir sind dazu da, dass Regeln übertreten werden.“ Die Interviews konnten fortgesetzt werden.
Anekdote
Als „witzigstes und auch bösestes Theaterstück“ der vergangenen Jahre bezeichnet die Theaterwerkstatt Pilkentafel selbst ihre Produktion zur Finanzkrise im Jahr 2009 in einer Ankündigung. Dort heißt es weiter: „Den Zuschauer erwartet ein Präsentationsabend von ‚Criservia’. Das fiktive ‚Institut zur Erforschung sozio-physiologischer Wechselwirkungen‘ hat zu einer Präsentation seiner ‚empathisch-empirischen Methode‘ eingeladen. Seit Jahren erforschen Dr. Johannes Kropf und Birte Flusser den ‚Krisenkörper‘ und stellen routiniert und kompetent ihre neuesten Forschungsergebnisse vor. Aber die Krise macht nicht an der Labortür halt, sie dringt in die konzentrierte wissenschaftliche Welt ein. Das Labor macht sich selbstständig, der Boden der Tatsachen schwankt, die Maßstäbe verrücken, Verunsicherung greift um sich und die Präsentation gerät zum Spektakel. Einzig unbehelligt bleibt der Chor der fröhlichen Banker. Sie surfen über die Krisen und lassen sich ihren Optimismus nicht nehmen.“
Dokumentarisches Theater zur Finanzkrise
Die Statistiken, mit denen das Publikum konfrontiert wird, hat die Theaterwerkstatt selbst entwickelt. Zahlreiche Interviews wurden auf dem Südermarkt in Flensburg geführt, über 100 Fragebögen zur Krise und den ausgelösten Emotionen wurden an das Theater zurückgeschickt. Nach einer umfassenden Recherche schreibt Elisabeth Bohde den Text und inszeniert neben der Präsentation des Criservia-Instituts auch drei untote Banker, die wie Geisterwesen auf- und wegtauchen, gespielt werden sie von den 16 und 17jährigen Schauspielerinnen Maren Seidel, Bele Wollesen und Lotta Bohde. Elisabeth selbst fährt als „Hausmeisterin“ in einem abgetrennten Plexiglaskasten sichtbar die Technik. Neben ihr sitzt der Musiker Tobias Gnüchtel, der Spiel und Szenerie auf der E-Gitarre begleitet.
Die Statistiken werden mit eingefärbtem Katzenstreu anschaulich gemacht, von der Decke hängen in fleischfarbenen Stoff gehüllt verschiedene Schlacht-Objekte (z. B. Würste, Haxen), auf denen Begriffe wie „DAX“, „Realwirtschaft“, „Konjunkturprogramm“, „Leitzins“ stehen.
Fiktives Spiel mit realen Daten
Das Bühnenbild arbeitet mit verschiedenen Kniffen. Der gesamte Bühnenraum ist mit fleischfarbenem Stoff ausgelegt, darauf bewegen sich alle Akteur:innen. Doch unter dem Stoff befindet sich kein fester Boden, sondern Matratzen, die jeden Schritt zu einem wackeligen Unterfangen machen. Durch drei Schlitze im Bodentuch können die Banker auf- und abtauchen, von der Decke werden immer mehr Gegenstände herabgelassen: Hängen dort anfangs nur die erwähnten Wurst-Anleihen, kommen später Kronleuchter und Neonröhren hinzu.
„Ich konnte diese Dinge als Hausmeisterin abstürzen lassen. Irgendwann war der Raum sehr ‚verunfallt‘, er zerbrach über die gesamte Vorstellung“, beschreibt Elisabeth die Situation und ergänzt: „Am Ende hing alles voll, alles war abgestürzt, Unmengen von Geldscheinen (z.B. ein 275-Euro-Schein) flogen herum.“
Auf wackeligem Boden
Elisabeth und Torsten sehen in einem Bericht der Tagesschau über die Finanzkrise das Interview mit einer älteren Dame, in dem diese sagt: „Wenn Karstadt schließt, dann ist alles am Ende.“ Dieser Moment bringt für sie das Fass zum Überlaufen und schnell steht der Entschluss, eine Produktion zu diesem Thema zu machen. Elisabeth erinnert sich: „Wir hatten das Gefühl, das kann man so nicht stehen lassen. Das war der Anlass einen Kommentar zur Finanzkrise zu entwickeln.“ Torsten rekapituliert die Ergebnisse der Recherche und der Interviews mit den folgenden Worten: „Es wuchs die Erkenntnis, dass niemand so richtig durchzublicken schien, das war die Grundlage für die Inszenierung. Die Absurdität, dass Gewinne eingesteckt, aber Verluste vergesellschaftet wurden, machte uns im Vorfeld schon zu schaffen. Die globalen Folgen der Deregulierung des Finanzmarktes schien einfach niemand mehr verstehen zu können.“
Begleitend zu Proben und Aufführungen gibt es Straßenaktionen mit Rettungsschirm: Die jungen Schauspielerinnen gehen durch die Flensburger Straßen und singen ,Ein Hut, ein Stock, ein Rettungsschirm’.
Tagesschau als Anlass
Fotos
Die Zuschauer:innen betreten den in Schweinchenrosa ausgekleideten Bühnenraum und werden nach Beantwortung einer willkürlich erscheinenden Frage (z. B. „Haben Sie Flugangst?“, „Leiden Sie unter Pollenallergie?“) in zwei Gruppen eingeteilt, die eine Gruppe sitzt rechts der Spielfläche, die andere links. Kaum dort angekommen, beginnt der „Vortrag“ der zwei Mitarbeiter:innen von Criservia. Torsten Schütte und Johanna Stapelfeld spielen diese und adressieren zunächst gleichzeitig, aber mit verschiedenen Texten das Publikum.
„Die Zuschauer werden bewusst verwirrt. Auch nach dem Seitenwechsel der Akteure wird der Zuschauer, der im Grunde schon im Brechtschen Sinne zum Akteur des Stückes geworden ist, weiter verwirrt. Was anderes bewirkt das Geseihere und Geplärre der Medien, Politiker und sonstiger öffentlicher Akteure im wirklichen Leben? Die Bruchstücke werden gehört, aber nicht verarbeitet, eine wohltuende Zusammenschau fehlt. …
Die Vertreter des – fiktiven und doch so realen – sozialwissenschaftlichen Sozialforschungsinstituts Criservia erklären dem Zuschauer die ‚empirisch-empathische Methode‘, die ‚sozio-physiologische‘ Wechselwirkungen nicht nur erkennen, sondern später auch spüren lässt“, erinnert Gerhard Ott in seiner digitalen Kritik vom 29. September 2009
Ein böses Spiel
Criservia-Logo
„Am Ende schweigt der ‚Krisenkörper‘. Alle tappen mit verbundenen Augen auf schwankendem Ernst (gemeint ist voraussichtlich der Boden) herum, werden zum Sprachrohr der Sprachlosigkeit.“ fasst Barbara Fürst ihren Eindruck in der oben erwähnten Kritik zusammen.
Sowohl die Banker als auch die Mitarbeitenden von Criservia tappen am Ende im Dunkeln. Die Banker in ihren schwarzen Anzügen mit Krawatte und schwarzen Hüten haben die Augen verbunden (nachdem sie zuvor eine Szene mit Schweinenasen gespielt haben); die Augen von Torsten und Johanna sind ebenfalls verbunden, doch zusätzlich sind ihre Ohren mit Kopfhörern verschlossen. Die von der Decke hängenden Objekte erschweren die Bewegung im Raum. Dieser Schluss ist Sinnbild für die Desorientierung, Gefährdung und Verwirrung durch die Finanzkrise.