1987
Der Untergang
Es spielen
Heike Erlenkämper, Christiane Martensen, Michael Fendler, Torsten Schütte
Regie
Elisabeth Bohde
Bühnenbild
Ensemble
Wolf-Dieter Hans (Konstruktion und Bau)
Premierendatum, -ort
August 1987, Anleger in Glücksburg
Vorstellungdauer
Abhängig von Reaktion des Publikums: 90-210 Minuten
Vorstellungszeitraum
1987-1989
Zahl der Vorstellungen
mindestens 50
Fakten
Sehenden Auges in die Katastrophe
Die auf dem Buch ‘Untergang der Titanic’ von Hans Magnus Enzensberger basierende Produktion ist die Reaktion der Theaterwerkstatt Pilkentafel auf die Atom-Katastrophe in Tschernobyl. Im Zentrum der Inszenierung stehen die Themen Verdrängung und gesellschaftlicher Fatalismus. Das Prinzip ‘Theater der Erfahrung‘ wird in dieser Arbeit sehr konsequent verfolgt, die Themen des Stückes finden ihren Widerhall in verschiedenen Aspekten der Rezeptionssituation und der künstlerischen Umsetzung (siehe Umsetzung).
Sehenden Auges in die Katastrophe
"Seit dem Mai 1986 hatten wir die Idee, Enzensbergers Untergang der Titanic zu inszenieren, doch: Wie authentisch vom Ende spielen? Wie nicht die Katastrophe durch die Darstellungen bannen und verharmlosen? Und ist nicht so ein Theaterstück auch nur eine geschicktere Form der Verdrängung, weil wir glauben, wir täten jetzt etwas, wir täten genug? Und halten wir uns als ‘Künstler‘, als ‘Spiegel‘ nicht heimlich für in letzter Konsequenz nicht betroffen? Und bieten wir nicht unserem Publikum ebenso die Chance zur Ausflucht, zum Abspalten, indem wir es übernehmen, stellvertretend zu fühlen, das Unfassbare zu benennen oder eine erlösende Wahrheit zu sprechen? Nein, wir werden keine Wahrheit sprechen, wir werden lügen, die ganze Zeit, eineinhalb Stunden. Wir geben eine Komödie: ein Konzert der falschen Töne, der unpassenden Witze, der selbstgefälligen Panik, des eklen Zynismus und der eitlen Rechthaberei.“
In der Ankündigung heißt es:
Die Premiere findet auf einem Bootsanleger in Glücksburg statt, zu dem das Publikum erst einmal mit einem Boot gefahren wird. Vorstellungen werden anschließend an den verschiedensten Orten wie z. B. in einem Ratssaal, in Jugendzentren, in Mensen und in Theatern gespielt. Aufgrund des einfachen Licht- und Raumkonzepts (Neonröhren und Glühbirnen-Ketten, keine Lichtwechsel) und der Möglichkeit, auch außerhalb geschlossener dunkler Theatersäle zu spielen, lässt sich die Produktion an vielen Orten realisieren.
In Flensburg wird sie vor allem im Lokschuppen, im von der Theaterwerkstatt Pilkentafel so getauften ‘Theater auf der anderen Seite’ gespielt, das Elisabeth Bohde und ihr Ensemble in dieser Zeit besetzen. Der Kleinbahnlokschuppen liegt keine hundert Meter von der Pilkentafel entfernt und ist bis zu einem Unfall und anschließender Sanierungskalkulation der ersehnte Ort für eine zukünftige eigene Spielstätte der Theaterwerkstatt Pilkentafel. (Zu dieser Zeit probt das Ensemble in den Räumen des (Wohn)Hauses Pilkentafel 2 und tritt vor allem an anderen Orten der Stadt oder im öffentlichen Raum auf.)
Fern klassischer Bühnenräume
Die Entscheidung liegt bei euch
Wichtigstes Element der Inszenierung ist das Spiel mit der Wiederholung: Als Sinnbild für die Verdrängung der Tatsache, dass die Katastrophe immer näher rückt, beginnt die Inszenierung immer wieder auf’s Neue. Jede Wiederholung ist dabei etwas hysterischer, absurder als die vorherige Version und spielt sich auf immer kleiner werdendem Raum ab. Die Verdrängung kostet buchstäblich immer mehr Energie. Die sich anbahnende Katastrophe des Untergangs findet ihre Entsprechung in einem stetig kleiner werdenden Bühnenraum. bis zuletzt Puppen in einem Koffer den Text in sehr hohem Tempo sprechen. Applaus ist nicht vorgesehen und nach der Premiere wird entschieden, dass die Vorstellungen erst enden, wenn das Publikum gegangen ist. Bis zu diesem Zeitpunkt beginnt das Spiel immer von Neuem, nur die Zuschauer:innen können es durch ihr Gehen beenden.
Umsetzung
Das Raumkonzept folgt grundsätzlich dem der Guckkastenbühne, ist aber nicht auf einen klassischen Theatersaal angewiesen: Man schaut auf eine offene leere Fläche, auf der fünf farbige Plastikbahnen von der vorderen Bühnenkante nach hinten verlaufen. Im Laufe des Abends heben sich durch eine ausgefeilte Konstruktion diese Planen von hinten langsam an, so dass eine hintere (immer größer werdende) Wand entsteht und schließlich die Spielfläche nur noch aus dem vorderen Bühnenrand besteht.
Die vier Spieler:innen bewegen sich jeweils auf einer dieser Bahnen, auf der sie vor- und zurückgehen können, die sie jedoch nicht verlassen. Ihr Bewegungsradius nimmt somit über die gesamte Vorstellungsdauer ab. Sie sind vereinzelt der sich anbahnenden und unvermeidbaren Katastrophe ausgeliefert, „Das einzig gemeinsame war der wachsende Wahnsinn, um die Verdrängung aufrecht zu erhalten.“ (Torsten Schütte) Eine Bahn bleibt leer (siehe Hintergrund).
Bis das Wasser zum Halse steht
Mit Blick auf die Arbeitsweise der Theaterwerkstatt Pilkentafel ergibt sich die Einsicht, dass „man mit einer Intensität umgeht, die man selber gar nicht im Griff hat“ und man die „Zuschauer viel mehr bewegt, wenn man sie nicht mit der eigenen emotionalen Intensität überfrachtet.“ (Elisabeth Bohde, Min28.) Die Spieler:innen agieren daher mit anderen Mitteln als der eigenen emotionalen Verstrickung und eröffnen dadurch Erfahrungsräume für das Publikum.
„Wir hatten erkannt, dass eine eigene Betroffenheit im Spiel während der Proben wichtig ist, in seltenen Fällen als energetischer Teil des Spielens während der Vorstellungen angebracht, aber fast immer schädlich, anbiedernd, Zuschauer missbrauchend ist“, konkretisiert Torsten Schütte und Elisabeth Bohde ergänzt: „Es gibt diese intensiven Momente, in denen sich das Leben verdichtet, wo es keinen Unterschied zwischen Diskurs und Praxis gibt.“ Er umreißt damit wie durch die Prozesshaftigkeit und die utopische Praxis der Arbeit eine politische Wirkung entsteht - eine grundlegende Annahme der Arbeit der Theaterwerkstatt Pilkentafel.
In diesem Sinne schafft die Theaterwerkstatt Pilkentafel mit dem Inszenierungskonzept einen gemeinsamen Erlebnisraum, nimmt das Publikum mit in den Prozess der Auseinandersetzung und fordert so zum individuellen Nachdenken und Handeln auf.
Abarbeiten am bestehenden System
„Bei einer Vorstellung wollten die letzten Zuschauer:innen immer gehen, setzten sich dann aber doch wieder. Irgendwann brachten sie uns Bier, zogen den Stromstecker. Schließlich kamen sie auf die Bühne und umarmten uns, dann war Schluss. „Ihr könnt nicht mehr, wir können nicht mehr, hört doch einfach auf!“
Bei einem Gastspiel hinterließ der abgestellte Azubi eine hilflose Sprachnachricht bei der Chefin: „Das sollte 1,5 Stunden gehen, jetzt sind es schon über 3 Stunden. Die Zuschauer haben sich hinter den Stühlen verbarrikadiert, was soll ich tun?“
Publikumsreaktionen
Fotos
Theater der Erfahrung - Wir spielen nur
Erkenntnisse aus der vorangegangen Produktion Die Tragödie führen zu einem bissigeren, ironischen Ansatz der Inszenierung. „Wir hatten erkannt, dass eine zu große Ernsthaftigkeit, der immense Anspruch an eine absolute Wahrhaftigkeit eine pathetische Spielweise zur Folge hat und der Inszenierung jede Luft zum Atmen nimmt.“ (Elisabeth Bohde)
Dieser Ansatz fordert auf, sich selbst nicht zu ernst zu nehmen, „sich nicht selbst auf den Leim zu gehen“, So drückt es Sohn Anton Bohde aus, der dieses Merkmal als kennzeichnend für die Theaterwerkstatt Pilkentafel beschreibt. In der Kritik im Flensburger Tageblatt vom 25. August 1987 heißt es: „Verstanden wissen wollen die Akteure der Werkstatt ,Pilkentafel’ ihre ,Komödie’ nicht im herkömmlichen Sinne dieser Bühnengattung, sondern als Ausdruck einer nur noch mit Humor zu ertragenden Hilflosigkeit gegenüber allen ,Untergängen’. Kunst, so meinte Regisseurin Elisabeth Bohde, könne nur noch beschreiben, nichts mehr bewirken. Sie will zeigen, dass Theater eben nichts als Theater ist, das so tun könne, als zeige es Realität, wovon es jedoch weit entfernt sei.“ (Dd) Dieses Aufbrechen der Illusion zieht sich wie ein roter Faden durch die weitere Arbeit der Theaterwerkstatt Pilkentafel.
Einordung
Die Inszenierung ist die Reaktion der Theaterwerkstatt Pilkentafel auf die Katastrophe in Tschernobyl und reiht sich in verschiedene weitere Aktionen ein: Unter anderem nutzt Elisabeth Bohde in dieser Zeit den öffentlichen Raum der Fußgängerzone, um hier im Rahmen einer Performance 14 Tage lang Salat zuzubereiten, in kleine Päckchen zu verpacken und an die Gesundheits-Ministerin zu versenden.
Auch die Aktionen in Weiß‚ bilden zu dieser Zeit wichtige Bestandteile der Arbeit der Pilkentafel, hier erscheinen weiß gekleidete Menschen als Gruppe im Stadtbild. Im Umfeld der Produktion von ‘Der Untergang‘ inszeniert Elisabeth eine Art Trauermarsch, bei dem viele in weiß gekleidete Menschen wiederholt das Lied Am 30. Mai ist der Weltuntergang (Will Glahö (Melodie) und Karl Golgowsky (Text)) singen. Ein Polizeibericht schildert das Ereignis sehr detailliert.
Aktionen im öffentlichen Raum
Die Proben zu dieser Produktion beginnen mit fünf Akteur:innen. Die kräftezehrende Auseinandersetzung mit den Katastrophen der Welt und sich selbst (siehe Anekdoten) führt jedoch zum Ausstieg einer Person. Die für sie vorgesehene Plastikbahn wird erhalten, als ‘Bahn der Ertrunkenen‘.
Hintergrund
Einmal bei einer Probe sagte Elisabeth Bohde eine Pause an, was äußerst ungewöhnlich war und einen Lachanfall bei einer Schauspielerin auslöste. „Ich schnitt mir in dieser Zeit eine Glatze. Weil ich den Spielerinnen so viel abverlangte. Um das Recht zu bekommen, so mit ihnen umzugehen.“ (Elisabeth Bohde)