1985
Allein mit Ophelia
Von und mit
Elisabeth Bohde
Premierendatum- und Ort
September 1985, Lagerhaus Flensburg
Vorstellungsdauer
70 Minuten
Vorstellungszeitraum
1985-1990
Zahl der Vorstellungen
80
Fakten
Das Solo von Elisabeth Bohde besteht aus zwei gleichwertigen Ebenen: Choreografische und performative Bilder bilden eine abstrakte und assoziative Ebene und ergänzend dazu spielt Elisabeth die immer essende Figur Doris, die mit ihrer Tochter telefoniert.
Das Solo nimmt ein fingiertes Gespräch zwischen Mutter und Tochter zum Ausgangspunkt der autobiografischen Reflexion über die Positionen als Frau und Erbin. Die Inszenierung fragt danach, was von der eigenen Mutter an Mustern und Verhaltensweisen übernommen und was an die eigene Tochter weitergegeben wird. Eine wesentliche Aussage der Produktion ist, dass man sich an den eigenen Kindern zwangsläufig auf eine gewisse Weise schuldig machen wird.
Matriarchale Linien
Erzählt wird die Geschichte einer Schauspielerin, der es vor vielen Jahren durch die Geburt ihrer Tochter verwehrt wurde, weiter in ihrem Beruf zu arbeiten. Sie warnt am Telefon ihre schwangere Tochter davor, selber Kinder zu bekommen. In der Ankündigung heißt es: „In ihrem Solostück ‘Allein mit Ophelia' setzt sich Elisabeth Bohde aus eigener Betroffenheit mit der Situation alleinerziehender Mütter auseinander, dem Gefangensein in der eigenen Erziehung und Prägung, dem Druck, eine gute Mutter sein zu wollen, der Nähe und Enge zwischen Mutter und Tochter, der Einsamkeit, dem Widerspruch, Beruf und Muttersein zu vereinbaren.“
„So wollte ich nie werden“
Auf der rechten hinteren Ecke der Bühne sieht das Publikum ein angedeutetes realistisches Bühnenbild: Dort befindet sich ein Sessel mit einem Tischchen und einer Stehlampe daneben, auf dem Tisch ein Telefon und diverse Süßigkeiten, Pralinen, Tutti Frutti und Sekt. Diese bilden wichtige Requisiten, hat doch das Essen und der Umgang mit diesem durchaus eine Kommentarfunktion: So beschäftigt sich Doris beispielsweise immer bei der Thematisierung des Partners ihrer Tochter mit einer Lakritzschnecke, was mit der Zeit eine eigene Komik entwickelt. Auf dieser Bühnenseite spielen die Szenen des Telefonats (welche auf Improvisationen aufbauen). Elisabeth schlüpft in die Rolle der Doris.
Auf der restlichen Bühnenfläche spielen die abstrakteren choreografischen Elemente und autobiografischen Szenen. Requisiten sind hier lediglich eine Puppe, eine Bettdecke und ein Schminkkoffer.
Die beiden Welten werden durch ein Black im Wechsel voneinander getrennt.
Der collagenartige Text nutzt Auszüge aus literarischen Vorlagen Hamletmaschine (Heiner Müller) und Traumspiel (August Strindberg) sowie autobiografisches Material und wird durch abstrakte tänzerische Elemente ergänzt. Hier steht eine Verschränkung der Mittel im Vordergrund: Der Umgang mit Objekten, mit der Stimme, mit dem Körper.
Neben der Telefonsituation ist eine Choreografie mit der Puppe und der Bettdecke das Kernelement der Inszenierung. In teils abstrakten, teils auch sehr konkreten Bildern (beispielsweise deckt Elisabeth die Puppe mit einem Kissen zu und setzt sich anschließend darauf) entsteht eine Bild- und Bewegungssprache, die der emotionalen Dimension des Themas Ausdruck verleiht.
Verwebung zweier Erfahrungswelten
Flyer
Bildmaterial
‘Allein mit Ophelia’ ist nach Wir werden uns leidenschaftlich lieben die zweite Arbeit von Elisabeth, die feministische Fragestellungen in den Mittelpunkt rückt und dabei autobiografisches sowie choreografisches Material miteinander kombiniert. Erstmals findet die Verarbeitung von Einflüssen des Roy Hart Theatre statt. „Hier wurde eine Art Methodenspur gelegt“, so Elisabeth.
(siehe auch Hintergrund)
Das gesellschaftspolitische Momentum der 1980er Jahre schlägt sich hier ebenso nieder wie die internationalen Theater-Einflüsse aus Studium- und Workshoperfahrungen (siehe Wir werden uns leidenschaftlich lieben). Der Versuch einer Positionierung in einem ‘kranken’ System, die Suche nach Alternativen und der Wunsch nach Auseinandersetzung führen auch in diesem Solo zu einer schonungslosen und selbstkritischen Theaterform, die das individuelle Drama einsetzt, um gemeinsame Erfahrung und das Gespräch darüber zu generieren.
Autobiografisches Theater
Entstanden ist das Stück nach einem Workshop mit dem Fokus Stimme von Enrique Pardo vom Roy Heart Theatre auf dem Scheersberg. Elisabeth arbeitet hier zu dem Text 'Hamletmaschine’ von Heiner Müller und erfindet die Choreographie, die auch im Stück zu sehen sein wird. Die Verwebung von Körper und Sprache steht hier im Fokus, verschiedene Verschränkungsformen werden erprobt.
Zum Umgang mit Sprache wird Elisabeth später sagen: „Man kann Sprache ausquetschen wie eine Orange.“* Dieser Blick auf die Sprache ähnlich wie auf Objekte oder Musik wird die Methodik der Theaterwerkstatt stark zeichnen. In einem Gespräch mit anderen Theatern formuliert es der ‘Weggefährte‘ Rolf Michenfelder (Theater neben dem Turm, ehemals Marburger Theaterwerkstatt) wie folgt: „Uns hat das Schauspiel als Ausstellung der Fähigkeiten nie interessiert, uns ging es darum, dem Inhalt gerecht zu werden.“
- Die Übung mit der Orange wird unter 'Opium für Ovid' erläutert.
‘Weggefährten**’ heißt ein Projekt der Theaterwerkstatt Pilkentafel zur Geschichte der freien darstellenden Künste und zu Möglichkeiten der Wissenstradierung im Jahr 2022.
Sprache ausquetschen wie eine Zitrone
Den Text der Doris entwickelt Elisabeth im Rahmen zahlreicher Improvisationen: „Ich habe alleine improvisiert und danach habe ich mich hingesetzt und das aufgeschrieben, was ich erinnern konnte.“ Auslöser des Stücks ist der Schreck über das eigene Tun. Mit Blick auf die eigene Mutterrolle befasst sich Elisabeth in diesem Solo mit Fragen des Umgangs von Frauen in matriarchaler Linie. Sie setzt sich mit gelebter Doppelmoral auseinander und arbeitet sich an ihrem eigenen Anspruch an eine gewisse Widerständigkeit und Offenheit ab. „Die Figur war wie eine Warnung.“ Ebenso setzt sich Elisabeth mit der harten Erkenntnis auseinander, dass Frauen in Deutschland nicht, wie in anderen Kulturkreisen, auf breite Unterstützung beim „Großziehen“ der Kinder zählen können und Muttersein daher per se mit Abstrichen in beruflichen (und anderen sozialen Kontexten) einhergeht. Eine aus dieser Erkenntnis resultierende Abtreibung wird ebenfalls in den autobiografischen Passagen verarbeitet.