2001

Opium für Ovid

Ein Lesetraum

Es spielen

Elisabeth Bohde, Torsten Schütte (Live-Technik)

Regie

Torsten Schütte

Komposition

Matthias Kaul

Kostüme

Gesine Hansen

Bühnenbild

Ensemble

Premierendatum- und Ort

20.09.2001 in der Theaterwerkstatt Pilkentafel

Vorstellungsdauer

6h

Vorstellungszeitraum

2001-2006

Zahl der Vorstellungen

35

Fakten

Matthias Kaul bringt Elisabeth das Buch Opium für Ovid von Yoko Tawada mit und gibt damit den Impuls für die Inszenierung. Schnell ist die Entscheidung gefallen, die Geschichten als Lesung im Wechselspiel mit einer Soundebene zu realisieren. 
Elisabeth entwickelt aufbauend auf einer ersten Lesefassung eine Art Partitur, eine Zuordnung der Kapitel als gelesene Texte oder als Hörspiel, eine Notierung der Leseweisen und -haltungen, und gemeinsam mit Torsten Schütte das Raumkonzept. „Ich habe durch diese Produktion noch einmal super sprechen gelernt“, resümiert Elisabeth mit Blick auf intensive Proben zu unterschiedlichen Lautstärken und Tempi.

Yoko Tawada besucht eine Vorstellung des dritten Teils, als es die Gesamtfassung noch nicht gibt. Elisabeth und Torsten erinnern ihre Aussage „Die müssen echt mutig sein, wenn sie sich trauen, dieses Stück Text öffentlich zu lesen.“ Es folgt ein weiterer Besuch des Gesamtabends und eine Lesung von Yoko Tawada. „Wenn Yoko liest, entsteht etwas Besonderes, eigentlich das, was wir uns immer als Konzentration wünschen“, sagt Elisabeth Bohde. Es entsteht eine Faszination, die zwei weitere Inszenierungen auslöst: 2008 ‘Die Kranichmaske, die bei Nacht strahlt’, inszeniert von Johanna Stapelfeldt und 2010 Mein kleiner Zeh war ein Wort, die Inszenierung eines Textes, den Yoko Tawada im Auftrag der Theaterwerkstatt Pilkentafel schreibt.

Die Entdeckung Yoko Tawadas

Plakat

‘Opium für Ovid - ein Kopfkissenbuch über 22 Frauen‘ von Yoko Tawada bildet Ausgangspunkt dieses Solos von Elisabeth Bohde. Das Buch „enthält 22 Portraits von Frauen aus den Metamorphosen von Ovid, die aber nun im heutigen Hamburg leben und sich auch da verwandeln, wie wir alle - nämlich altern.“ (So wird der Inhalt des Buches von der Theaterwerkstatt Pilkentafel selbst auf der Homepage zusammengefasst.

„Geschichten unter den mythischen Titel-Namen griechischer Göttinnen“ (Stefanie Zich, Flensburger Tageblatt, 22.09.2001) sind hier versammelt, „Frauen mit unterschiedlichsten Berufen, die verschiedene Sorgen quälen, die alle an der Grenze der gesellschaftlich festgelegten Normalität entlang tanzen. Frauen, die nicht einsehen wollen, warum Altern nicht ein Zugewinn an Schönheit sein kann, die von einer heimlichen Sehnsucht durch das Leben getrieben werden. Frauen, die Bestätigung nicht von einem gönnerhaften Partner erwarten, sondern die Selbstbestimmung leben wollen.“ (Theo Müller, Diabolo 17/04, Oldenburg).

22 Portraits von Frauen

In klarer Linie zu den Inszenierungen Klytaimnestra (1990) und Keinem bleibt seine Gestalt (1997) setzt die Theaterwerkstatt Pilkentafel ihren spezifischen Umgang mit literarischen, epischen Vorlagen konsequent fort: Als „Lesetraum“ bezeichnet die Theaterwerkstatt Pilkentafel selbst die Inszenierung, als „szenische Lesung" stuft die Kritik (s.o.) die Produktion ein. Zahlreiche Aspekte, die die Arbeit der Theaterwerkstatt Pilkentafel auszeichnen, kommen hier zusammen: Der literarische Inhalt wird stringent in ein Raum- und Inszenierungskonzept überführt, das Publikum wird auf verschiedenen sinnlichen Ebenen einbezogen (s.o.), und die intensive Erforschung der literarischen Sprache und die Sichtbarmachung dieses Vorgangs wird durch das Lesen selbst zugänglich gemacht. Grundlage ist ein ausgefeiltes Wechselspiel von Bewegung, Sprache, Klang, Video und Licht, das sinnliche Erfahrungsräume für die Zuschauenden schafft und dabei nie seine Mittel verbirgt.

In der Inszenierung sind neben Leseteilen auch Hörspielanteile und Klanginstallation enthalten. 
„So weit weg von Theater waren wir sonst nie“ sagt Elisabeth Bohde und ergänzt: „Wir haben bewusst die Grenzen des Theaters aufgelöst. Wir wollten einen Erlebnisabend kreieren und in diesem Sinne ist der Abend vielleicht eher eine Installation.“
Zunächst wird die Produktion an drei Abenden, in drei Teilen gezeigt, dann jedoch auf Anregung eines Zuschauers als ,Long-Duration-Performance’ angeboten und bis tief in die Nacht gespielt. 


Long-Duration und Installation


In der Spielweise und dem Umgang mit dem Text zeigen sich ebenfalls einige Spezifika der Methode der Theaterwerkstatt Pilkentafel: Der Raum, Objekte und Materialien und die Bewegung sind gleich gewichtete Ausgangspunkte für die szenische Arbeit, ebenso wie die Sprache oder das geschriebene Wort. (siehe Hintergrund) 
Die Haltung, dass man sich ein Sujet, eine Spielweise, die Körperbeherrschung ähnlich wie ein Handwerk erarbeitet, durchzieht die Arbeit der Theaterwerkstatt Pilkentafel wie ein roter Faden. 
In dieser Inszenierung ist die Erforschung des Lesevorgangs grundlegende Basis der Darstellungsform. Für die verschiedenen Figuren des Buches entwickelt Elisabeth dafür jeweils spezifische Formen, wobei sie dabei vor allem dem jeweiligen körperlichen Sitz der Sprache nachgeht. „Obwohl ich in erster Linie vorgelesen habe, war das eine sehr körperliche Inszenierung“, sagt sie.

Das körperliche Zentrum der Sprache


Die Schule von Enrique Pardo

In dem Gespräch über eine andere Inszenierung sagt Elisabeth, man könne Sprache ähnlich behandeln wie man ein spezifisches Material bearbeitet. Und greift zum Bild der ausgequetschten Orange. Die ‘Orangenübung’ war Bestandteil der Workshops mit Enrique Pardo vom Roy Hart Theatre, ein wichtiger Lehrer der Theaterwerkstatt Pilkentafel. Die Übung beinhaltet eine intensive Imagination des Vorgangs, wie man eine Orange behandelt. Dieser Vorgang wird pantomimisch mit allen enthaltenen Etappen wie z.B. Entdecken, Greifen, Begreifen/Fühlen (Gewicht, Konsistenz, etc.), Drücken, Ausquetschen, Fallenlassen oder Wegwerfen, Abwenden (Loslassen) dargestellt und gleichzeitig werden einzelne Worte (z. B. ein UND) entsprechend gesprochen bzw. artikuliert bzw. bearbeitet.

Die Schule von Enrique Pardo


Download

Ankündigungstext, Flyer, Presse

Der Besuch einer Vorstellung von ‘Opium für Ovid’ ist ein ziemlich exklusives Erlebnis: ein Theaterabend der besonderen Art für 12 Personen: „Kurz bevor sich die Tür zum Theaterraum öffnet, werden die Zuschauer gebeten, die Schuhe auszuziehen. Dann ein Schritt durch hoch aufgehängte Seiden- und Baumwolltücher und die Überraschung ist perfekt: Es gibt keine Sitze vor einer Bühne, sondern in einen vollkommen weiß gehaltenen Raum locker geworfene Kissen. Die Modedesignerin Gesine Hansen hat keine normalen Sitzkissen entworfen, sondern alte Korsagen, Hosen und Faltenröcke fest ausgestopft und pastellfarben gestrichen, dicke Stoffkörper, in denen sich das Publikum lagert. ... Die Bühne ist dort, wo das Licht einfällt und die Schauspielerin sich lesend bewegt: vor oder hinter den vollkommen glatten Vorhängen, in einer Ecke oder mitten im Raum. Das leichte Spiel mit der Oberfläche durchsichtiger Stoffe wird intensiviert durch plätschernde Wassergeräusche und entwickelt sich zu rhythmisch-zitternden Hologrammen aus fließenden Lichtwellen.“ (Stefanie Zich, Flensburger Tageblatt, 22.09.2001).

Die Theaterwerkstatt Pilkentafel geht auf die besondere Rezeptionssituation dieser auf der Homepage als „Lesetraum“ untertitelten Inszenierung in der Ankündigung ein:
„Yoko Tawada beschreibt die Welt so, wie sie aussähe, könnte man zugleich träumen und hellwach sein“, schrieb die TAZ (so die Theaterwerkstatt Pilkentafel auf ihrer Homepage), „also ist es auch erlaubt, einzuschlafen, und den eigenen Text zu träumen.“


Zum Träumen eingeladen

Salmacis - Der Schwimmer

In dem weißen Raum („Wenn wir Maler gewesen wären, wäre das unsere weiße Phase gewesen“ (Elisabeth Bohde)) bewegt sich Elisabeth Bohde und liest das Buch von der ersten bis zur letzten Seite vor. „Wo wohnt die Sprache“ ist die Kritik von Theo Müller in Anlehnung an den Text überschrieben. „Egal in welche Frauenrolle, Elisabeth Bohde schlüpft in sie, verleiht ihr Vitalität, verlangt Aufmerksamkeit. Ihre Stimmführung bringt die Sprache in einen Rhythmus, der in den Ohren der Zuhörenden zu Musik wird. Selbst wenn ihre Stimme aus unterschiedlichen Ecken des Raumes vom Band kommt, sie sich ganz dem begleitenden Spiel der Tücher widmet, ist für unendliche Spannung gesorgt“, heißt es in seiner Kritik. Dieses „Spiel der Tücher“ schöpft aus dem entwickelten spezifischen Bewegungsrepertoire der Theaterwerkstatt Pilkentafel und vereint Tanz- und Eutonie-Elemente.
Torsten Schütte ist ebenfalls auf der Bühne, sitzt jedoch ausschließlich in einer Ecke am Technikpult und steuert von dort Licht und Ton. „Wir haben natürlich kein Technikpult in diesen Raum gebaut. Aber dieses stundenlange Sitzen im Schneidersitz war eine echte Herausforderung.“ (Torsten Schütte) Ergänzend zum Bühnengeschehen sind auch die Pausen in besonderer Art und Weise gestaltet: Ein Mehr - Gänge - Menü wartet während der Umbauten auf die Zuschauenden, der Vater der jungen Schauspielerin Maren Seidel (siehe z. B. Besuch bei Katt und Fredda) entwirft einmal sogar ein spezifisches Menü in weißen Farben.

Die weiße Phase

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