1990
Klytaim-nestra
Es spielen
Elisabeth Bohde, Torsten Schütte
Text und Inszenierung
Elisabeth Bohde
Musik und Dramaturgie
Matthias Kaul
Auge von Außen
Heike Erlenkämper
Bühnenbild+Kostüme
Ensemble
Marianne Gymnopoulos (Malerei)
Wolf-Dieter Hans (Konstruktion und Bau)
Premierendatum, -ort
Mai 1990, Museumsberg Flensburg
Vorstellungsdauer
135 Minuten mit Pause
Vorstellungszeitraum
1990-1991
Zahl der Vorstellungen
15
Fakten
Nacherzählungen und Originaltexte aus der Orestie in der Übersetzung von Walter Jens bilden den Kern dieses „ultra-feministischen Abends“ (Elisabeth Bohde). Live gesprochene Elemente wechseln sich mit Audio-Einspielern und choreografierten Abschnitten ab.
Das Spiel von Elisabeth Bohde resultiert dabei aus einer sehr spezifischen Herangehensweise an die gesamte Produktion: Auf der Suche nach einer feministischen Praxis im Sinne von Christa Wolf, die davon ausgeht, dass es neben der intellektuellen Annäherung noch eine Art der Annäherung gibt, die etwas mit Erspüren, Erfahren und Empfinden zu tun hat, changiert das Spiel zwischen distanzierter Beschreibung und dem Erforschen davon, „was Frauen einmal gewesen sein könnten, bevor sie domestiziert wurden.“ (Elisabeth Bohde) „Das schreibende Ich ist in der Regel das männliche Ich. Mir ging es auch darum zu erspüren, wo mein eigener Platz als Frau in dieser Fremdsprache zu finden ist“ und sie ergänzt: „Das Stück ist mental und körperlich extrem anstrengend gewesen“.
Die Inszenierung enthält auch theoretische feministische Betrachtungen über die Orestie als Etablierung des Vaterrechts und der Diskreditierung matriarchaler Kulturen. In der Umsetzung, so Elisabeth, sei eine historische Leseweise der Mythologie und der Versuch, diese Wut der Klytaimnestra in sich wieder zu finden, Ausgangspunkt gewesen. Die Darstellungsweise enthält in erster Linie eine Choreographie von Bildern und weniger Szenen im klassischen Schauspiel-Stil.
Wie Geschichte entsteht
Die Darstellungsweise enthält in erster Linie eine Choreographie von Bildern und weniger Szenen im klassischen Schauspiel-Stil. Einzelne Teile aus der Orestie werden von Elisabeth vorgelesen, ganze Passagen jedoch auch zusammengefasst, nacherzählt, teilweise dekonstruiert. Einzelne Seiten werden dabei aus dem Buch herausgerissen als Sinnbild für die Kritik daran, dass die geschriebene Sprache in der Regel männliche Sprache ist.
Choreographie von Bildern
„Ich bin auch richtig angefeindet worden. Die Kritik ging in die Richtung: ‘Das haben wir uns schon immer gedacht, dass Elisabeth einen Mann umbringen will.‘“
Anfeindungen
Elisabeth Bohde taucht mit diesem Solo tief in die Materie der Orestie ein und beleuchtet in der Inszenierung aufbauend auf insgesamt drei Griechenlandreisen zwischen 1988 und 1990 und umfassender Recherche die Etablierung des Vaterrechts.
In der Ankündigung heißt es: „Grundlage und Ausgangspunkt des Schauspiels von Elisabeth Bohde ist die ‘Orestie‘ des Aischylos, die einzig vollständig erhaltene Trilogie der griechischen Tragödie. Die ‘Orestie‘ beschreibt die Ereignisse in Mykene nach dem Sieg der Achaier im zehn Jahre dauernden Krieg gegen Troja: Agamemnon, der Heerführer, wird von seiner Frau, Klytaimnestra, nach seiner Heimkehr ermordet. Sie rächt damit die Opferung der gemeinsamen Tochter Iphigenie durch Agamemnons Hand zu Beginn des Krieges. Dieses Opfer sollten den Achaiern guten Wind für die Fahrt in den Krieg gegen Troja bringen. Klytaimnestra selbst wird weiterhin von ihrem eigenen Sohn, Orest, umgebracht, der aber im Gegensatz zu ihr freigesprochen wird. Der Gattenmord wird verdammt, der Muttermord dagegen bekommt recht vor der mutterlos aus dem Kopf ihres Vaters geborenen Göttin Athene. Damit gilt die ‘Orestie‘ als die exemplarische Rechtfertigung des Vaters- bzw. Sohnrechts."
Der erste Teil der Inszenierung spielt in der Zeit nach Trojas Fall. Klytaimnestra erzählt in Rückblenden von dem Geschehen. Im zweiten Teil sind die Rückkehrer angelandet, Klytaimnestra wird in Kürze Agamemnon wiedersehen und die Inszenierung kreist um das Gefühl der angestauten Wut und des Racheimpulses. Der Abend endet mit dem Dialog zwischen Klytaimnestra und Agamemnon, gespielt von Torsten Schütte.
Die Einführung des Vaterrechts
Mehrere Griechenlandreisen nach Mykene sowie Recherchen zu matriarchalen Kulturen (z. B. minoische Kultur) und Vaterrecht gehen der Produktion voraus.
Auf der Homepage der Theaterwerkstatt Pilkentafel heißt es: „Während der Vorbereitung auf Die Tragödie – ein Schauspiel der Theaterwerkstatt Pilkentafel im Jahr 1987 über den Helden – stieß Elisabeth Bohde auf die Figur der Klytaimnestra, die sie seitdem nicht mehr losließ. Die Beschäftigung mit dieser Figur lehrte sie den Mythos lesen und führte zu ausgedehnten Reisen und Gedanken und Gefühlen Recherchen durch die Früh- und Vorgeschichte Griechenlands, die griechische Tragödie, die Frage nach dem ‘Matriarchat‚, der Rolle der Frau in der Geschichte und zu drei tatsächliche Reisen nach Griechenland, während derer im Wesentlichen der Text dieses Schauspiels entstand.“
Elisabeth erinnert sich, wie sie sich in die Texte einpflügte, alles über die Orestie in sich aufsog, um dann mit enormer Textkenntnis ausgestattet an die Orte des Geschehens zu reisen. „Es ging mir um die Frage, ob ich mich verbinden kann mit dem Mythos, der da durchscheint“, erläutert sie und führt weiter aus: „Ich wollte die Atmosphäre dieser Orte in mich aufnehmen und erforschen, inwieweit ich über die intellektuelle Aneignung hinaus meine eigene Struktur umbauen kann, um der Figur der Klytaimnestra gerecht zu werden.“
Mit ihrer Auseinandersetzung geht auch eine Reflexion über Geschichtsschreibung einher, über die Frage, wie Geschichtsschreibung unser Verständnis der Vergangenheit prägt und welche Grenzen Formen der Überlieferung haben.
In der Ankündigung vom Flensburger Tageblatt vom 14.10.1988 heißt es: „Die Theaterwerkstatt Pilkentafel stellt ein neues Stück auf die Bühne. Bei einer Art öffentlichem ‘Brainstorming‘ ging die Regisseurin ... mit den bisherigen Ideen, Gedanken und Vorarbeiten an die Öffentlichkeit. In der Stadtbibliothek berichtete sie von ihren ‘Vor-Ort-Recherchen‚ in Griechenland, erzählte aus der griechischen Mythologie und las erste Kostproben vor. Seit zwei Jahren beschäftigt sich die Theatermacherin mit dem Stoff... Ohne jeden Anflug von wissenschaftlicher Nüchternheit erzählte sie die Geschichte vom König Agamemnon, seiner Gattin Klytaimnestra und den Kindern Iphigenie, Elektra und Orest wie ein zeitloses Märchen, wie eine Familientragödie, die sich in abgewandelter Form auch heute abspielen könnte. ... Für das Stück mit dem Arbeitstitel ‘Am Vorabend der Orestie‘ schreibt Elisabeth Bohde einen neuen Text. Er wird zu einem großen Teil innere Monologe der Titelhelden beinhalten, da wegen der dünnen Personaldecke der Theaterwerkstatt nur Klytaimnestra und Agamemnon auftreten werden. (pop)“
Intensive Recherche
Bildmaterial
Die Methode der Annäherung und Erforschung verbindet Darstellungsweisen und musikalische Ebene und kann als weibliche Herangehensweise im Gegensatz zur patriarchal geprägten Projektion beschrieben werden. Ingeborgs Bachmann Ansatz einer weiblichen Linguistik wird ebenfalls als Einfluss genannt. „Mir ging es um die Potentiale von Weiblichkeit, auch um die Kraft und Aggression. Das rief bei manchen Männern große Abwehr hervor.“
(Die beispielsweise bei Waschtag beschriebene Arbeitsweise der Durchdringung und Suche kann hier als Parallele genannt werden. Nicht die Beherrschung und Unterwerfung des Materials zur schauspielerischen Selbstdarstellung ist das Ziel, sondern die Spielerin stellt sich gewissermaßen in den Dienst des Materials, geht mit ihm eine Beziehung ein.)
Die Musik entsteht in enger Zusammenarbeit mit Matthias Kaul, der die kritische Betrachtung des Patriacharts teilt und unterstützt und wichtiger Partner im gesamten Entstehungsprozess ist. „Die Solidarität von Matthias und Torsten war wichtig. Es wurde klar, dass auch Männer eine feministische Perspektive einnehmen können.“ (Elisabeth Bohde)
Das Spiel von Elisabeth Bohde und später auch Torsten Schütte entfaltet sich vor einem großen abstrakten Gemälde von Marianne Gymnopolous, zahlreiche Bücher zu Orestie und Klytaimnestra bilden die Bühnenkante. Tische, Podeste und eine Tür auf der Bühne sind die weiteren Bestandteile des Bühnenbildes.
Weiblicher Zugang
"Elisabeth Bohdes Schauspiel thematisiert die letzten Stunden Klytaimnestras vor dem Mord an Agamemnon, dessen Rückkehr sie nach der Ankündigung durch einen Boten ungeduldig erwartet, bis zu seinem Empfang. In ihrer Adaption verbindet Elisabeth Bohde Originaltexte in der Übersetzung von Walter Jens, Reflexionen aus heutiger Sicht und versucht, sich in die Figur der Klytaimnestra einzufühlen. Eingebunden ist ihr ‘weibliches Sprechen‚ in die Komposition von Matthias Kaul (L’Art pour l’Art, Hamburg). Männliche Stimmen umgeben, verfolgen, bedrängen die Frau, die nachdenkt über ihr Leben, über ihr Bild: Elisabeth Bohde über Klytaimnestra, Klytaimnestra über sich. Die Stimmen, das Gesprochene verdichten sich in musikalisch-rhythmischem Ereignis, das gleichzeitig Spielpartner auf der Bühne wird. … So dienen alle Medien –Theater, Sprache, Musik, Malerei – in diesem Schauspiel der Annäherung an das Thema, und alte Texte verbinden sich mit stilistischer Modernität.“ (Zitat aus dem Begleitheft zum Stück, siehe Downloadordner)
Selbstbeschreibung
„Ich habe sehr viel darüber gelernt wie sehr Geschichte auch Geschichtserzählung ist.“