1990
Eine Partei stellt sich vor
Es spielen
Heike Erlenkämper, Torsten Schütte
Regie
Elisabeth Bohde
Bühnenbild+Kostüme
Ensemble
Premierendatum, -ort
- März 1990 im kleinen Saal des deutschen Haus (heutiges 51 Stufen Kino)
Vorstellungsdauer
70 Minuten
Vorstellungszeitraum
- März - 03. Oktober 1990
(18.03.90: letzte Wahl zur Volkskammer der DDR)
(03.10.90: Tag der Wiedervereinigung)
Zahl der Vorstellungen
20
Fakten
Die Inszenierung entsteht nach einer dreiwöchigen Reise von Torsten, Elisabeth und Heike durch die eben noch bestehende DDR im Januar 1990. Sie reflektiert die Beobachtungen zu der sich anbahnenden Übernahme durch die BRD im Format einer Wahlveranstaltung der (fiktiven) Partei (DSÖPD) und befragt kritisch die Folgen der Wiedervereinigung und der Ausweitung der repräsentativen Demokratie auf den Osten.
Im Zentrum der Handlung steht die Präsentation des Wahlprogramms der sozialen, ökologischen und demokratischen Volkspartei DSÖPD durch zwei Parteimitglieder, die kurzfristig den Parteivorsitzenden Herrn Ahlbeck vertreten und das Publikum als potentielle Wählerschaft adressieren. Das Setting entspricht einer Wahlkampfveranstaltung bzw. einer Pressekonferenz. Das Publikum sitzt als potentielle Wählerschaft den Schauspieler:innen gegenüber. Durch drei Schreibtische entsteht das Bild einer Pressekonferenz.
Kritik an Prozess der Wiedervereinigung
Premiere feiert die Produktion in Anklam (Vorpommern) am 17. März 1990, dem Vorabend der letzten Volkskammersitzung. Sie löst bei Vorstellungen in verschiedenen Orten Ostdeutschlands zahlreiche Diskussionen aus. Die letzte Vorstellung findet am 03. Oktober 1990 in Flensburg im Deutschen Haus statt. „Es war erschreckend, dass man nach diesen drei Wochen (Reise in die DDR) bereits absehen konnte, was alles kommen würde. Die Vereinnahmung durch den Westen und den Kapitalismus, die kommende Arbeitslosigkeit, die Wiederwahl Kohls“, so Elisabeth. „Es erschien uns absurd, dass sich die Parteien des Westens einfach den Osten einverleibten. Die dort erlebten Runden Tische schienen uns das viel bessere demokratische Instrument.“
Ein Blick in die Zukunft
Kurz nach Mauerfall entschließen sich Elisabeth Bohde, Torsten Schütte und Heike Erlenkämper zur Reise in die ehemalige DDR. Im Januar reisen sie mit kontinuierlicher Unterstützung der dortigen Bevölkerung durch viele Orte im Osten. Elisabeth Bohde ist zu diesem Zeitpunkt bereits sehr vertraut mit marxistischer Theorie, ihr Hauptinteresse ist die Recherche nach alternativen Lebensentwürfen und Gesellschaftssystemen.
Für Torsten Schütte ist es eine sehr persönliche Reise, denn ein Teil seiner Familie lebt in der DDR. Die emotionale Konfliktlinie beschreibt er wie folgt: „Die Position, nicht einfach das eine System vom anderen einverleiben zu lassen, also keine vorschnelle Wiedervereinigung anzustreben, ließ meine Oma sagen: ‘Da haben wir 40 Jahre lang gelitten und jetzt wollt ihr uns nicht‘. Ich habe mich zwischen diesen Positionen aufgerieben, denn hinter beiden stehen Menschen (sogar Verwandte).“ Die politische Auseinandersetzung ist für Torsten somit zugleich eine sehr persönliche.
Hintergrund
Flyer
Fotos
Die Produktion entsteht, wie zahlreiche spätere Produktionen (Westliche Höhe, Vom Reisen in ehemalige Kolonien, An der Grenze) der Theaterwerkstatt Pilkentafel aufbauend auf intensiven Recherchen und verarbeitet die Eindrücke der vorangegangenen Reise. Im Sinne der Definition des postdramatischen Theaters von Hans-Thies Lehmann entsteht eine Aufführungssituation, die ein spezielles Verhältnis zum materiellen Bühnengeschehen und alternative Wahrnehmungen beim Publikum zum Ziel hat.
Dokumentartheater
Die Theaterwerkstatt Pilkentafel selbst ordnet die Produktion in ihrer Ankündigung wie folgt ein: „Im legendären November '89 entschieden wir uns, alles liegen und stehen zu lassen, um ein Stück zu machen zur ‘Lage der Nation‘. Als freie und politische Theatergruppe wollten wir so frei sein, die Geschichte nicht nur sich selbst zu überlassen. ‘Grüße von drüben‚ sollte das neue Stück heißen. Aber die Ereignisse (Wer sind die Ereignisse?) haben nicht nur uns überrollt. Umso stärker war die Lust, (auch nach unserer Studienreise in die DDR) sich einzumischen – hier bei uns. So entstand ‘Eine Partei stellt sich vor‚ – ein Theaterstück, - das Parteiveranstaltung spielt mitten im Wahlkampftheater der real existierenden Parteien, - das immer nach anderen Antworten sucht als den naheliegenden, - das sich unter Demokratie immer noch etwas anderes vorstellt als Wahlkampf, Meinungsmache und Anbiederei an die Masse, - das nicht vorschnell falsche Einheiten sucht, - das Positionen ausprobiert und ad Absurdum führt, - das Forum für eine neue BRD sein will.
Einordung
Die Macht des Faktischen
"Das ist Fakt" war einer der meist gehörten Sätze auf unserer Reise. Und das klang immer endgültig. Was lässt sich schon dagegen sagen, wenn etwas endgültig ist? Ich glaube, und davon will ich reden, man muß dagegen etwas sagen, man muß dem etwas entgegensetzen. Ich will also reden von der Rolle der Utopie in der Politik, von ihrer Notwendigkeit und ihren Gefahren.
...
Ich möchte meine Ausführungen so zusammenfassen: Beide Systeme erscheinen mir krank. Die DDR, weil sie ihre Utopie als Wirklichkeit ausgab - die BRD, weil sie vorsichtshalber gar keine Utopie entwickelte; beide, weil sie die Spannung zwischen Utopie und Wirklichkeit nicht ertragen wollten.
Und Intensität, Ganzheit, auch Kunst, die ihren Namen verdient, entsteht vielleicht nur in dieser Spannung.
...
(Elisabeth Bohde hält die Rede ,Macht des Faktischen' im Februar 1990 im Museum der Stadt Flensburg.)