2017
Von der Begierde Burgen zu bauen
Es spielen
Antoine Effroy, Chidi Egwuom, Torsten Schütte
Text und Regie
Elisabeth Bohde
Licht
Manuel Melzer
Bühnenbild
Ensemble
Kostüme
Gesine Hansen
Premierendatum
07.09.2017 in der Theaterwerkstatt Pilkentafel
Vorstellungsdauer
1h30
Vorstellungszeitraum
2017-2019
Zahl der Vorstellungen
15
Fakten
Neben den Choreografien und Spielmomenten der beiden Männer und dem dauernden Zucker-Hineintragen durch Chidi Egwuom ist eine informative Ebene als zentrales Element in die Inszenierung gewoben. Immer wieder ertönt Elisabeths Stimme aus dem Off: „Sie berichtet über den Sklavenhandel, den Beginn des Kolonialismus in Afrika, die Rolle Livingstones und vor allem Stanleys, über die Auswirkungen falscher Entwicklungshilfe und die Rolle der Agrarkonzerne, die Hintergründe der Live-Aid-Konzerte von Bob Geldof in den 80er Jahren bis hin zur aktuellen Abriegelung Europas gegenüber afrikanischen Flüchtlingen …“, formuliert Joachim Pohl in seiner Kritik vom 09.09.2017 im Flensburger Tageblatt.
Vermittlung von Geschichte
Die Inszenierung ‚Von der Begierde Burgen zu bauen‘ entsteht aus einer Forschungsexkursion mit Germanistik-Studierenden nach Togo zu einer deutschen Burg im Dschungel (Großfriedrichsburg), die Bea Lundt, Geschichtsprofessorin in Flensburg und erfahrene Afrika-Reisende organisiert hat. „Hier wurden abgefahrene Geschichten entdeckt“, erinnert sich Elisabeth. „Die Burg wurde von den Preußen erbaut und an die Niederlande verkauft, was der Stadthalter aber nicht glaubte und was dann zu einem Kampf gegen die Niederländer führte, bis er letztendlich verschwand.“
Die Reise führte auch zu anderen berühmten Sklavenburgen in Togo und Benin. Elisabeth und Torsten führen Workshops mit den Studierenden zur Verarbeitung des Gesehenen durch.
Forschungsexkursionen
Joachim Pohl schreibt eine kritische Rezension, insbesondere bezüglich der formalen Aspekte. In seiner Premierenbesprechung vom 09.09.2017 heißt es: „Erwarten Sie keinen unterhaltsamen Theaterabend, … Erwarten Sie am besten noch nicht einmal Theater!“
Kritische Stimme
Nach ,A Gesture to Find’ (2012) und ,Vom Reisen in ehemalige Kolonien’ (2014) setzt ,Von der Begierde Burgen zu bauen’ die theatral-performative Reflexion der Theaterwerkstatt Pilkentafel über Kolonialismus und die heutige Flüchtlingspolitik fort.
Was trieb die Europäer dazu, fremde Länder zu erobern und als erste Handlung dort Festungen zu errichten? Diese Frage steht im Zentrum einer performativen Inszenierung, die von der angeblichen Entdeckung Afrikas bis hin zur Flüchtlingspolitik der Gegenwart reicht. In 200 Kilogramm Zucker, dem wesentlichen Bühnenbildelement und Requisit (siehe unten), manifestieren sich die „Verstrickung und Vergeblichkeit, der Verlust und die Verschwendung, der Überfluss und Überdruss, …, es ist eine Selbstuntersuchung unseres kolonialen Erbes an unserem kolonialen weißen Körper.“ (Ankündigungstext der Inszenierung)
Dritte Produktion zu Kolonialismus
„Europäische Burgen säumen die Küsten Westafrikas und fungierten als Handelsstationen, aber auch als Gefängnisse für die versklavte schwarze Bevölkerung“, erläutert die Theaterwerkstatt in ihrer Ankündigung auf der Spielstätten-Homepage und macht die wesentlichen Fragen kenntlich: „Wir fragen uns: Warum bauten unsere Vorfahren, kaum angekommen, Burgen in der Fremde? Wofür brauchen wir Burgen? Und ist Rassismus nicht auch eine Burg, eine innere Burg der weißen Überlegenheit? Ist unser Wohlstand eine Burg, die wir verteidigen? Und wollen wir den wirklich an den europäischen Außengrenzen mit Stacheldraht und Grenzkontrollen sichern? Und unsere Überlegenheit mit Begriffen wie Leitkultur, christliches Abendland, Identität betonieren?“
Kritische Selbstbefragung
Die Texte werden von der Musik des Soli-Songs 'Do They Know It's Christmas' (2014) der von Bob Geldof ins Leben gerufenen 'Band Aid 30' eingefasst. Das Lied war erstmals 1985 ein Spendenaufruf für die unter einer Hungersnot leidenden Menschen Äthiopiens. 2014 wurde es dann neu aufgelegt, diesmal im Hinblick auf die west-afrikanische Ebola-Pandemie. In seiner selbstgefällig wohltätigen Haltung dient das Lied im Kontext der Aufführung als Soundtrack für weiße Wohltätigkeit, die aufgrund der völligen Abwesenheit von historischem Bewusstsein und Selbstkritik zu einer versteckten Feier der eigenen Überlegenheit im moralischen Gewand gerät. Die in derartigen Hilfsaktionen enthaltene Infantilisierung schwarzer Menschen wird anhand von Zitaten Albert Schweitzers (siehe S.14 des Stücktexts) weiter herausgearbeitet und rundet die Untersuchung von Wohltätigkeit als Baustein weißer Überlegenheit ab.
Wohltätigkeit als Überlegenheit
Ganzes Stück auf Vimeo
„Merkel hatte gerade ein Abkommen mit den schlimmsten Regierungen unterzeichnet, um das Einfangen der Flüchtlinge bereits vor Ort sicherzustellen“, schildert Elisabeth einen weiteren Aspekt der Erfahrungen vor der Inszenierung. Teil der Inszenierung wird deshalb auch das Einspielen der Pressekonferenz vom 29. August 2017 mit Merkels Erklärung.
Auch für das bequeme Verharren in der so fragwürdigen Situation findet die Inszenierung ein klares Bild, das Ruth Bender in ihrer Rezension beschreibt: „Wie wenig sich seitdem geändert hat, sieht man zum Schluss: Da liegen die Herren glücklich in ihrer Sandburg und lassen sich − ganz Kolonialherrenart − einen kühlen Drink servieren.“ (ebenda)
Der Politik entgegentreten
Wie herausfordernd die Auseinandersetzung mit den Themen Rassismus und Kolonialismus ist, hatten Elisabeth und Torsten bereits auf gemeinsamen Reisen mit Matthias Kaul nach Zimbabwe (1997), nach Zimbabwe und Südafrika (1998), nach Namibia (2009) und auf die Virgin Islands (2014) erlebt. Schon mit Blick auf die Inszenierung ,Lucky hat gesagt’ (1999) stellt Elisabeth fest, dass manche Aussagen und die Art und Weise der Darstellung heute (2023) kritischere Reaktionen hervorrufen würden.
In Bezug auf ,Von der Begierde Burgen zu bauen’ teilt sie diese Erfahrung: „Wir wurden sehr angegriffen, weil Chidi die Zuckersäcke teilweise auf seinem Kopf herein transportiert. Uns wurde die Reproduktion von Vorurteilen vorgeworfen. Chidi hat das Stück und seine Funktion darin sehr gut verstanden und hat selber diese Art des Tragens gewählt.“
Komplexes Thema
Fotos
Als Metapher für die Geschichte Afrikas nutzt die Theaterwerkstatt die Geschichte des Zuckers. Ruth Bender schreibt in den Kieler Nachrichten am 26.01.2019: „Bohde hat die Geschichte heruntergebrochen auf eine Kettenreaktion, in der jeder Versuch diese zu durchbrechen, zum Scheitern verurteilt scheint. Als neutrale Stimme aus dem Off fasst die Theaterleiterin die Geschichte zusammen. Von den ersten Zuckerrohrsetzlingen, die Columbus in die Karibik verschiffte, und deren Anbau den Handel mit Arbeitssklaven aus Afrika beflügelte über die dänische Niederlassung St. Thomas, die zum Sklaven-Umschlagsplatz wurde und den deutschen Völkermord an den Herero bis in die Migrationsbewegung von heute. ‚In der Karibik begann der Kapitalismus‘, berichtet sie (gemeint ist Elisabeth Bohde), macht den Zucker als erstes industriell gefertigtes Nahrungsmittel zum Kapitalismussymbol.“
Zucker als Symbol
Elisabeth über Zucker
Angelehnt an die Thematik des Abends erhält Zucker in verschiedensten Formen in der Umsetzung eine entscheidende Rolle: Die Zuschauenden blicken auf einen überwiegend leeren, dunklen Raum. Das Material, aus dem Mauern und Burgen, Linien oder Schrift entstehen, ist Zucker. Er wird von dem schwarzen Schauspieler Chidi Egwuom in schweren Säcken in den Raum getragen und dient den Performern Antoine Effroy und Torsten Schütte als Ausgangspunkt zahlreicher Szenen. „Der Zucker wird Spielmasse und Sinnbild für die Geschichte Afrikas“, formuliert es Ruth Bender in der oben genannten Kritik. Das Spektrum des Spiels der Männer beschreibt Ruth Bender wie folgt: „Sie sind naive Kinder und Stammtischbrüder, Gutmenschen von heute, Eroberer oder Ethnologen …“ (ebenda).
Ergänzende Requisiten sind unzählige Totenschädel aus Plastik, die einerseits Sinnbild der Opfer des Kapitalismus sind und andererseits die Abgründe europäischen Handelns verdeutlichen: In einer Szene streichen die Spieler zärtlich über die Schädel, während man von den Schädelvermessungen in der Berliner Charité erfährt, die die geistige Überlegenheit der weißen Rasse belegen sollten.