2008
Westliche Höhe
Es spielen
Elisabeth Bohde, Torsten Schütte, Lucie Morin, dann Maren Seidel
Text und Regie
Elisabeth Bohde
Komposition
Matthias Kaul
Bühnenbild+Kostüme
Ensemble, Gesine Hansen
Technik+Bilder
Harald Smorra, Günter Aicher
Premierendatum, -ort
21.02.2008 in der Theaterwerkstatt Pilkentafel
Vorstellungsdauer
2h30 mit Pause
Vorstellungszeitraum
2008-2019
Zahl der Vorstellungen
100
Fakten
Wie bereits bei anderen Arbeiten zu politischen Themen ,Ihr lebt das Leben, wie lieben den Tod’) (2005) entsteht die Inszenierung aufbauend auf umfangreichem Recherchematerial. Die Auseinandersetzung mit diesem Material ist essenzieller Bestandteil der Inszenierung und das Publikum erhält einen eindrücklichen Einblick in die Such- und Forschbewegung der Theaterwerkstatt Pilkentafel.
Neben Originaldokumenten wie Gutachten und Briefwechseln, die aufgearbeitet, nachgestellt und vorgetragen werden, geben Einspieler von den Nürnberger Prozessen Eindrücke von den Tatbeständen und biografischen Hintergründen der in Flensburg verorteten Nazi-Verbrecher. Diese Dokumente belegen auch, dass viele Flensburger wussten, wer, Sawade’ war.
In dem Projekt ,Weggefährten’ betonen Elisabeth und Torsten Schütte, dass elementarer Antrieb und Ausgangspunkt ihrer Arbeit das Bestreben nach Durchdringen des Materials sei. Ein essentieller Impuls, der auch für andere Theater, die sich in den 80er Jahren gründeten, Gültigkeit hat.
Dokumentarisches Theater
Ganzes Stück
Das finale Bild der Inszenierung steht im Kontrast zu einem parallelen Erzählstrang: Lucie Morin (später Maren Seidel) taucht wiederholt als „typische Hausfrau der 50er Jahre“ (Torsten Schütte) auf. In dieser Rolle liest sie aus dem im Deutschland der Nachkriegszeit weitverbreiteten Erziehungsratgeber „Die deutsche Mutter und ihr erstes Kind“ (Titel der Erstauflage: „Adolf Hitler, die deutsche Mutter und ihr erstes Kind). Die vom NS-Regime beauftragte Autorin Johanna Haarer propagiert darin die Unterwerfung des Kindes unter ein penibles Sauberkeitsregiment, bei völliger Missachtung seiner sozialen Bedürfnisse (siehe S.3 und S.9 Stücktext). Die Szene vermittelt also „den deutschen Hygienewahn und das Spießertum der 50er“ (Joachim Pohl, s.o.) und dessen Wurzeln in der nationalsozialistischen Erziehung. Auch hier zeigt sich das Phänomen in Schweigen gehüllter Kontinuität: Das Buch wurde unter anderem Titel weiter aufgelegt und stand noch lange nach Ende des dritten Reiches in den Regalen deutscher Familien − auch bei Elisabeths Mutter.
„Diese Ebene war uns wichtig, nicht zuletzt, weil hier Privates und Politisches zusammenfallen.“ erklärt Elisabeth.
Nationalsozialistische Erziehung
In einem Gespräch über ihre Biografie zitiert Elisabeth Bohde ihre Großmutter, die Elisabeths Mutter mit Blick auf die steigende Verzweiflung aufgrund einer viel schreienden kleinen Tochter entgegnete: „Dieses Kind gehört so.“ Widerständigkeit scheint Elisabeth in die Wiege gelegt zu sein, ihre Strategie war die des Hinsehens und Laut - Werdens, nicht des Still - Seins. Weiter berichtet sie: „Mich hat eine bestimmte Art des Schweigens argwöhnisch gemacht. Schon als Kind ging ich durch manche Straßen und ahnte, dass da etwas nicht stimmt.“ Und so nimmt sich die Theaterwerkstatt mit ,Westliche Höhe’ der verborgenen und vertuschten Geschichten der Stadt Flensburg an, die durchaus Zündstoff enthalten.
„Flensburg war die Reichshauptstadt in den letzten grotesken Tagen des zweiten Weltkriegs. Hier sammelten sich die letzten Reste der ehemaligen Regierung, hier versteckten sich unter anderen der Ausschwitzkommandant Höss und der Euthanasieprofessor Heyde, der unter dem Namen Sawade bis 1959 als Gutachter für Gerichte tätig war. Das gutbürgerliche Viertel „Westliche Höhe“ war ihr bevorzugter Wohnort. Man kannte sich, deckte sich, verdeckte die Vergangenheit, schwieg. Wie wirkt sich dieses Schweigen aus, wie kontaminiert es spätere Generationen, wie erstickt es Unbeteiligte, wann bricht es auf und mit welcher Gewalt?“ erfährt das interessierte Publikum über die Ankündigung der Produktion.
Verborgene Geschichte
Im Gespräch über die Produktion wird deutlich, welch immense Bedeutung die Recherche der Theaterwerkstatt auch für die Flensburger Geschichte hat: „Durch unsere Vorbereitungen auf die Inszenierung wurde uns bewusst, wie groß die Blase an Verbrechern war, die in Flensburg lebten. Viele waren früher in der Waffen-SS und vor allem wussten wirklich viele, wer Sawade war.“, erinnert sich Torsten.
Joachim Pohl schreibt dazu: „Schnell konzentriert sich das Geschehen auf einen Mann: Prof. Werner Heyde, Euthanasie-Arzt aus Würzburg, 1945 verhaftet, 1947 geflohen, in Flensburg untergetaucht, wo er sich als Dr. Fritz Sawade eine neue Existenz aufbaute. Er lebte im Walter-Flex-Weg. Im Stile einer dramatischen Dokumentation wird seine verbrecherische Tätigkeit minutiös und haarklein beleuchtet, indem Formblätter gezeigt und Dienstanweisungen verlesen werden; Schütte schlüpft in die Rolle des tödlichen Arztes, der tausende Todesurteile durch eine einfache farbliche Markierung auf einem Formular fällt. Eine beklemmende Inszenierung. Der Fokus richtet sich jedoch auf die 50er Jahre, als Heyde als Dr. Sawade ein neues Leben als Arzt beginnt, mit Gutachten viel Geld verdient, sich mehreren Menschen offenbart und unerkannt bis 1959 leben und arbeiten kann, weil niemand etwas unternimmt.“
Das Schweigen beenden
Die Inszenierung schließt mit einem eindrücklichen Bild (siehe Fotos): Zu einer von Matthias Kaul erstellten Collage aller Number One-Hits von 1968 bis 1978 recken Torsten und Elisabeth ihre Fäuste empor, die über die gesamte Länge der Musik langsam sinken. „Mit diesem Bild wollten wir der verspäteten Wut Ausdruck verleihen. Und das Publikum erhielt so eine Phase zur Verarbeitung“. (Elisabeth Bohde)
Der Wut Ausdruck verleihen
Erstmals arbeitet die Theaterwerkstatt in einer Inszenierung mit verschiedensten technischen Geräten. Über Video-Projektionen werden Filme (u.a. von den Nürnberger Prozessen) aber auch Schrift und die Bilder einer Live-Kamera projiziert. Viele kleine Lautsprecher ermöglichen ein ausgeklügeltes Sound-Design und eine Nebelmaschine rundet die Effekte ab.
Technisch aufwendig
Fotos
Die Inszenierung greift das persönliche Erleben von Elisabeth Bohde auf und lässt die Entdeckungen der Theaterwerkstatt Pilkentafel wortwörtlich werden. Ein Mann und eine Frau, gespielt von Elisabeth Bohde und Torsten Schütte, gehen spazieren durch das Flensburger Viertel Westliche Höhe. „Ein überdimensionaler Stadtplan bildet den Bühnenboden… Theaterchefin Elisabeth Bohde wuchs tatsächlich auf der Westlichen Höhe auf und hat tatsächlich irgendwann erfahren, dass mehrere Nazi-Größen nach Kriegsende nur ein paar Straßen oder Häuser weiter lebten − unerkannt oder − und das ist Thema des Stücks − erkannt und gedeckt.“, beschreibt Joachim Pohl Bühnensituation und Hintergrund der Arbeit in seiner Kritik vom 25. Februar 2008 in den Flensburger Nachrichten.
„Der Mann entdeckt plötzlich etwas am Boden, hebt eine Klappe − und fortan schauen sie in den Untergrund dieses Viertels, in die jüngere Vergangenheit. Auf der Unterseite der Klappe sind zu sehen Franz Schlegelberger und sein Sohn Hartwig. Der Ältere war Hauptangeklagter bei den Nürnberger Prozessen, der jüngere zwei Jahre Marinerichter, wirkte mit an Todesurteilen, wurde später Minister in Schleswig-Holstein.“ erläutert Pohl einen konkreten Vorgang und gibt damit auch ein plastisches Beispiel wie Raum und Handlung ineinandergreifen: Die aufgedeckten Klappen geben Anlass zur Erzählung und Anstoß zum Spiel.