2005
Ihr liebt das Leben wir lieben den Tod
Credits/Besetzung
Spiel: Torsten Schütte, Uwe Schade, Johanna Stapelfeldt, Elisabeth Bohde
Regie: Elisabeth Bohde
Premierendatum, -ort
09.09.2005 in der Theaterwerkstatt Pilkentafel
Vorstellungsdauer
1h30
Vorstellungszeitraum
2005-2006
Zahl der Vorstellungen
15
Fakten
Reiseeindrücke ins Gehirn gebrannt
Nach 9/11 fragen sich Elisabeth Bohde und Torsten Schütte, in welchem Zustand man sein muss, um solche Taten verüben zu können. Über Sachliteratur, u. a. von dem Nahost-Korrespondenten Christoph Reuter nähern sie sich dem komplexen Thema. Die zahlreichen Situationsbeschreibungen aus dem Libanon, dem Iran oder aus dem Irak werden später auch Teil der Textfassung. „An diesem Punkt haben wir verstanden, dass dem Akt des Selbstmordattentats in der Regel eine Demütigung, eine Wertlosmachung des eigenen Lebens voran gegangen ist.“ (Elisabeth) Das Goethe-Institut vor Ort vermittelt einen Fremdenführer und einen Fahrer. Der Fremdenführer stellt sich als ‘Glücksgriff’ heraus: er verschafft Elisabeth, Torsten und Uwe Schade zahlreiche Interviews in einem Flüchtlingslager. Dort sind „die Gegenwart des Todes und die Bedrohung durch die Israelis“ (Elisabeth) nachzuvollziehen, die geschilderte Dramatik der Checkpoints, die Übermacht der Israelis und das damit einhergehende Gefühl des Ausgeliefertseins brennt sich ins Gedächtnis.
Hintergrund
Die Vorstellung beginnt wie bei anderen Inszenierungen (z. B. ‘Mond und Morgenstern‘) mit der Offenlegung der theatralen Situation. Die Spieler:innen streiten sich darüber, ob man an diesem Abend den Applaus annehmen kann oder nicht. Im späteren Verlauf der Inszenierung folgt ein Streit zu der Frage, ob es gesellschaftliche oder psychologische Ursachen für das Phänomen ‘Selbstmordattentäter’ gibt. Die Vorstellung endet mit einem Video-Loop, auf dem die in die Türme fliegenden Flugzeuge zu sehen sind und parallel eingespielte Nachrichten.
Ein offener Prozess
Die Inszenierung ist die Verarbeitung der Theaterwerkstatt Pilkentafel von den Eindrücken der Terroranschläge auf das World Trade Center in New York am 11.09.2001 und einer dadurch ausgelösten einwöchigen Reise nach Israel und Palästina im Frühjahr 2005. „Zu bestimmten historischen Momenten haben wir uns immer wieder aufgefordert gefühlt, Stellung zu beziehen, mit Theater dicht an die Tagesaktualität heranzugehen und einen anderen, persönlicheren Blick auf das zu werfen, was uns in Fernsehen, Radio, Zeitungen begegnet. So ein Moment war unzweifelhaft der 11. September 2001 und seitdem ist es so geblieben“, schreibt die Theaterwerkstatt Pilkentafel selbst in ihrer Ankündigung zur Produktion.
„Wieso ist weder das eigene Leben noch das der anderen etwas wert? Und wie können wir – die anderen – der Westen – darauf antworten? Kampf dem Terror? Krieg dem Terror? Wie bekämpft man jemanden, der nichts zu verlieren hat? Und welche Rolle spielen die Medien? ... Und wie kann das Theater darauf reagieren, welche Form ist angemessen? Wir haben viel gelesen, gesehen, sind in die palästinensischen Gebiete gefahren und haben die Familien von Märtyrern, Kämpfer der Al-Aqsa Brigaden, Täter wie Opfer, getroffen... und nun versuchen wir es, versuchen, eine Haltung zu finden“, heißt es weiter.
Ursachenforschung
Die als Kooperation mit dem Theater Triebwerk und zunächst als Duo von Torsten Schütte und Uwe Schade angelegte Produktion zeigt vier Annäherungsversuche, vier Ebenen der Auseinandersetzung mit der Frage, wie man 9/11, der Tatsache, dass sich Menschen freiwillig umbringen, um damit möglichst viele andere Menschen zu töten, begegnen kann.
„Es war klar, dass es keine Form mehr gibt, die diesem Thema entsprechen konnte, keine angemessene Haltung dazu“, sagt Elisabeth.
In vier nicht sichtbar abgegrenzten Spielräumen im weitestgehend leeren Raum kann das Publikum vier Soli sehen, die teilweise miteinander interferieren. Uwe Schade nähert sich mit einem elektronisch verfremdeten Cello dem Material über die Musik. Mit Cello und Loop-Gerät schafft er atmosphärische Sound- und Klangcollagen. Torsten Schütte liest Texte (Bekennerschreiben, Sachliteratur und journalistisches Material), seine einzigen Requisiten sind ein Stuhl und ein Notenständer, auf dem die Texte liegen. Elisabeth Bohde, in einen Militärmantel gehüllt, schafft eine Bewegungsebene, die das Explodieren eines Körpers erforscht und berichtet dabei von Reiseeindrücken. Johanna Stapelfeldt, am Tisch mit Laptop sitzend, bearbeitet live Fotos der palästinensischen Intifada, auf denen Kriegs- und Gewalt-Szenarien zu sehen sind, was über eine Projektionsfläche im Hintergrund zu verfolgen ist.
Vor allem durch die musikalische und die Bewegungsebene entstehen einzelne Verbindungen.
Annäherung
Fotos
Nach ‘Klytaimnestra’ (1990), ‘Eine Partei stellt sich vor’ (1990) und ‘Lucky hat gesagt’ (1999) entwickelt die Theaterwerkstatt Pilkentafel erneut eine Produktion aufbauend auf einer konkreten Fragestellung und einer entsprechenden Recherche-Reise. Der Produktion geht eine einwöchige Reise nach Palästina voraus, in deren Kontext Elisabeth, Torsten und Uwe zahlreiche Gespräche mit Familienangehörigen von Selbstmordattentäter:innen führen. „Das ganze Leben dort war um diese Gewalt und den Tod herum gebaut“, erinnert Elisabeth. „Wir sprachen Mütter, die nicht trauern durften, Brüder, die sich schämten, noch am Leben zu sein. Menschen, die mit Abschiedsvideos von Selbstmordattentätern ihr Geld verdienten“, fährt sie fort.
Die Inszenierung gibt auch der Überforderung Raum, die das Ensemble anhand dieser Eindrücke und auch mit Blick auf die Größe des Themas verspürte. „Es wird auch deutlich, wo die eigene Klarheit aufhört.“