2011
Wörterbuch
Es spielen
Lotta Bohde, Thore Lüthje, Torsten Schütte, Maren Seidel, Bele Wollesen, Pia Stürmer (Harfe)
Textbearbeitung und Regie
Elisabeth Bohde
Raumgestaltung
Roy Spahn
Komposition
Matthias Kaul
Premierendatum -ort
01.09.2011 im ehemaligen Hallenbad Flensburg
Vorstellungsdauer
1h30
Vorstellungszeitraum
2011-2012
Zahl der Vorstellungen
15
Fakten
Eine unangenehme Atmosphäre schlägt dem Publikum bereits beim Einlass entgegen: Es wird von zwei sehr strengen Personen, gespielt von Elisabeth Bohde und Torsten Schütte, barsch aufgefordert zu folgen. In Offiziersmanier werden Befehle erteilt, man landet in der Garderobe. Aus einem Garderobenschrank hört man die ersten Texte der Vorstellung. Ist dort jemand eingesperrt?
Doch ehe man zu viele Frage stellt, erschallen die nächsten Befehle und das Publikum wird im Schwimmerbereich des leeren Schwimmbeckens platziert. Bis zu 80 Menschen finden hier ihren Platz. Hoch ragen nun die Wände an den Seiten empor und oben, an den Kanten des Beckens und im Nichtschwimmer-Bereich des Beckens entfaltet sich das Spiel.
Drei junge Frauen und ein junger Mann (das zu dieser Zeit aktive „Junge Ensemble“ der Theaterwerkstatt Pilkentafel bestehend aus Lotta Bohde, Maren Seidel, Bele Wollesen und Thore Lüthje) sind die Hauptdarsteller:innen dieses Abends. Bele und Maren geben gemeinsam der Hauptfigur des Romans ihre Stimme, viele Passagen werden chorisch gesprochen.
„Sie stehen und agieren für unterschiedliche Facetten der Persönlichkeit der Hauptfigur, eines Mädchens, das sich an seine Kindheit erinnert. Es sind überwiegend düstere, verstörte Erinnerungen. Die jungen Schauspieler flüstern, plappern, jubilieren, schreien. Sie eilen oder sie schleichen durch den Text, sprechen im Duo oder im Quartett, mal unisono, mal kunstvoll gesetzt wie in einem Streichquartett für Sprache.“, schreibt Joachim Pohl (s.o.).
Als die Geschichte sich zuspitzt, wird das Publikum umgesetzt, nun in den Nichtschwimmerbereich. Auf dem Dreimeter-Sprungbrett (vom Beckenboden aus in 7 Metern Höhe) spielt sich anschließend eine dramatische Szene zwischen Adoptivvater (Torsten Schütte) und Tochter (Bele) ab, in der sich die Tochter in die Tiefe stürzen möchte.
Der Raum und das Publikum
Sowohl für das Publikum als auch für die Spieler:innen muss ein ausgeklügeltes Sicherheitskonzept entwickelt werden.
Die Schlussszene auf dem Sprungbrett spielt Bele mit einem Sicherheitsgurt.
Aufwendiges Sicherheitskonzept
Das Buch ,Wörterbuch’ von Jenny Erpenbeck dient der Theaterwerkstatt Pilkentafel als Grundlage für diese Inszenierung im leerstehenden ehemaligen Flensburger Hallenbad. „Jenny Erpenbecks kunstvolle Prosa gehört zu einer seltenen Art von Literatur, die das Gruseln lehrt, ohne es darzustellen. Sie versetzt den Leser in einen Schwebezustand zwischen Traum und Wirklichkeit und lässt keinen Zweifel daran, dass hinter beidem stets der Albtraum lauert.“, wird die Neue Zürcher Zeitung vom 12. Juli 2005 im Wikipedia-Eintrag zu dem Roman zitiert.
„Die ganze Geschichte spielt in einem nicht benannten, südamerikanischen Land um 1980, während General Videla über das Gebiet herrschte“ (Wikipedia). Im Zentrum der Geschichte steht eine Ich-Erzählerin, die nach und nach die Wahrheit über ihre Herkunft herausfindet. Ihr vermeintlicher Vater untersteht dem genannten Diktator als hoher Militäroffizier, sie wird von einer Amme großgezogen. Durch verschiedene Wörter werden Erinnerungen wach und Gefühle ausgelöst, die ihr schließlich offenbaren, dass ihre eigentlichen Eltern vom Regime zu Tode gefoltert wurden und ihr neues Elternhaus eine „Resozialisierungsmaßnahme“ ist und sich hinter ihrem vermeintlichen Vater der Folterer und Mörder ihrer eigentlichen Eltern verbirgt.
Die Folgen einer Diktatur
Für die Realisierung der Inszenierung hat sich die Theaterwerkstatt einen sehr speziellen Raum gesucht: Das alte Hallenbad in Flensburg bietet mit seinen leeren Becken, den weißen Fliesen und der kalten Atmosphäre die ideale Umgebung für die Produktion.
Joachim Pohl schreibt in seiner Kritik im Flensburger Tageblatt am 03. September 2011: „Es ist nicht das erste Mal, dass sich die Theaterwerkstatt Pilkentafel ein ausgedientes öffentliches
Gebäude für eine Theaterproduktion aussucht. Unvergessen ist die große Collage zur Verabschiedung der alten Stadtbücherei, die der Flensburg-Galerie weichen musste. (Anm.: Gemeint ist eine Performance unter dem Titel ,Ausgelesen’ im Jahre 2005.) Jetzt also das Hallenbad, dessen Zukunft ungewiss ist. Das Publikum sitzt auf Ikea-Hockern am
Beckengrund, nicht auf bequemen Theatersesseln, in die man sich kuscheln kann. Die
gekachelten Wände und Böden vermitteln eine Aura der Kälte, des Klinischen. Geräusche hallen und klingen nach.“
Das Schwimmbad als Resonanzraum
Plakat
Nach den gemeinsamen Produktionen ,Besuch bei Katt und Fredda’ (2007), ,Ein Hut, ein Stock, ein Rettungsschirm’ (2009) und weiteren größeren und kleineren gemeinsamen Arbeiten überlässt die Theaterwerkstatt Pilkentafel mit dieser Arbeit einmal mehr dem Nachwuchs die Bühne, der durch Spielweise und Präzision begeistert. Maren, Lotta und Bele sind noch Schülerinnen der 12. Klasse und widmen ihre gesamten Sommerferien den Proben. „Die Mädchen konnten mit den absurdesten Anforderungen umgehen, sowohl sprachlich als auch körperlich“, erinnert sich Elisabeth.
Joachim Pohl geht in seiner Kritik (s.o.) auch auf diese Ebene ein: „Aber sie geben dem Text auch eine physische, eine räumliche Komponente, indem sie das Bad ‚bespielen‘: Sie liegen am Beckenrand oder sitzen an der Schräge zum Sprungbecken, um gleich danach hinunter zu rutschen. Sie balancieren auf der Kante, sie laufen um das Becken herum, sie springen. Immer taucht jemand irgendwo auf, schleicht sich ran. Die Vier gaben dem Text auf eine wunderbare Art eine ganz unmittelbare Präsenz − eine großartige Leistung dieser jungen Schauspieler!“
Nachdem eine der Spielerinnen erkrankt, muss die sehr erfolgreich angelaufene Produktion zunächst wieder abgesetzt werden. Die Wiederaufnahme ein Jahr später stößt nicht mehr auf die gleiche Resonanz.
Eine Produktion für das „Junge Ensemble“
Fotos
Der Bedeutung von Sprache, einzelnen Wörtern und ihrem Klang haben Elisabeth Bohde, Torsten Schütte und Matthias Kaul bereits in zahlreichen vorherigen Inszenierungen nachgespürt. Von ,Kolik’ (1992) über ,Keinem bleibt seine Gestalt’ (1997) oder ,Opium für Ovid’ (2001) bis hin zu ,Mein kleiner Zeh war ein Wort’ (2010) entwickelt das Trio eine Arbeitsweise, die literarische Werke erforscht und in das theatrale Medium übersetzt. Wie in den vorangegangenen Produktionen steht auch bei dieser Arbeit die sinnliche Erfahrungsebene, die vor allem über Klang, Rhythmus, Atmosphäre und Raumspannung etabliert wird, im Zentrum der Übersetzungstätigkeit.
Auf der Homepage der Theaterwerkstatt heißt es zu der Inszenierung:
„Mit einer poetischen, zarten Sprache nähert sich Jenny Erpenbeck der brutalen Wirklichkeit einer Diktatur, beschreibt von innen die Zerstörungen, zeichnet die verschlungenen Wege der Erinnerung nach, wechselt Perspektiven. Wie so oft bei der Bearbeitung von Literatur geht es nicht um eine Dramatisierung, sondern darum, diesen Text zu inszenieren, seine Struktur auszudehnen in den Raum des Hallenbads, die Sprache zu beleuchten, der Erinnerung körperliche Gestalt zu geben, dem erzählenden Ich verschiedene Stimmen zu geben, den Raum zum Klingen zu bringen. Der Zuschauer sitzt mittendrin, Text, Spiel und Raum verbinden sich zu einer intensiven Erfahrung, so wie es nur im Theater möglich ist, auch wenn das Theater im Schwimmbad ist.“
Der Sprache auf der Spur
Elisabeth Bohde und Bühnenbildner Roy Spahn vertrauen mit ihrem Inszenierungskonzept auf die Wirkung des Raumes und die mit Matthias Kaul erarbeitete Klangebene. Die Nacktheit der weißen Fliesen korrespondiert auf beklemmende Weise mit den Passagen des Textes, in denen es um Folter geht. Torsten Schütte als Vater trägt einen schwarzen Anzug, ansonsten greifen alle Kostüme das Weiß des Raumes auf. Sowohl die junge Frau als auch die als Geister erscheinenden ermordeten Eltern tragen weiße Kleidung.
Mit einer schweren Eisenstange, die über den Boden gezogen wird, werden brachiale Geräusche erzeugt, eine Schwalldusche wird durch einen Gummihammer in tiefe, alles durchdringende Schwingungen versetzt. Diese Klänge werden durch Harfenspiel und Gesang von Pia Stürmer kontrastiert.
Das Beleuchtungskonzept der Inszenierung spielt mit dem einfallenden Tageslicht und der im Schwimmbad vorhandenen Beleuchtung mit Neonröhren. Ausschließlich für die Schluss-Szene gibt es eine eigene Lichtstimmung, ergänzt durch den Einsatz einer Nebelmaschine.
Minimale Mittel
Die Inszenierung hat nachhaltigen Eindruck hinterlassen:
„Menschen reden noch heute davon, dass sie da im Publikum saßen.“