2003
Kalli kippt
Es spielen
Kian Pourian, Torsten Schütte
Regie
Elisabeth Bohde
Komposition
Matthias Kaul
Kostüme
Gesine Hansen
Bühnenbild
Ensemble
Premierendatum, -ort
13.09.2003 in der Pilkentafel
Vorstellungsdauer
50 Minuten
Vorstellungszeitraum
2003-2009
Zahl der Vorstellungen
50
Fakten
Ankündigungstext der Theaterwerkstatt Pilkentafel:
„Kalli sieht stabil aus, aber das täuscht. Er weiß nie, wo er eigentlich hingehört, möchte immer dabei sein und weiß doch nicht wie. Ganz im Gegensatz zu Antonia, die ruhig dasteht, würdevoll und schön, und dann doch ganz unverhofft in die Schräglage gerät. Aber eigentlich lag das alles nur an dem Herrn. Ohne den wäre Kalli auch nicht gekippt. Ohne diesen Herrn wäre alles anders gewesen. Aber wie – anders? Am besten noch mal anfangen – von vorne – ohne den Herrn. Aber nun klappt gar nichts mehr und alles wird ganz anders....
Kalli, Antonia, der Herr und all die anderen sind Stühle. 13 weiße Stühle, denen man nicht unbedingt zutraut, soviel zu erleben. Auf die Reise geschickt werden sie von der Musik – einer Achterbahnfahrt durch fast alles, was für Klavier komponiert wurde.“
Ankündigung
Oftmals ein Teil der Öffentlichkeitsarbeit: Aktionen, Interventionen und Installationen im öffentlichen Raum. Hier: Weiße Stühle.
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‚Kalli kippt‘ ist eine Inszenierung für Kinder im Grundschulalter und setzt die Linie des Objekttheaters der Theaterwerkstatt Pilkentafel fort. Anhand von Stühlen wird, angelehnt an das Bild der Familienaufstellung*, untersucht, wie soziale Gefüge funktionieren. Dabei gibt es verschiedene Charaktere, u.a. den Kinderstuhl Kalli, dessen ‘Verhalten‘ die Inszenierung strukturiert. Die Stühle stehen für Personen/Rollenfiguren einer Familie, tragen Namen und erhalten über den Umgang mit ihnen spezifische Charaktere. Die Handlungen sind präzise zur Musik getaktet, eine Collage von Matthias Kaul aus berühmten und zeitgenössischen Werken für Klavier bildet das wesentliche strukturgebende musikalische Element. Die Musik bildet eine Art ‚‘Skript‘ für die Bewegungen und Abläufe. Neben der Erforschung sozialer Mechanismen schwingt durch die Struktur der Inszenierung auch das Thema Scheitern (siehe Umsetzung) mit.
*eine (quasi theatrale) psycho-diagnostische und -therapeutische Praxis, die von dem deutschen Psychologen Bert Hellinger entwickelt wurde.
Familienaufstellung mit Stühlen
Mit dieser Inszenierung realisiert die Theaterwerkstatt Pilkentafel erstmals die Idee, tagsüber für Kinder zu spielen und abends für Erwachsene. Das Konzept geht auf: Erwachsene am Abend feiern die Produktion ebenso wie die Kinder tagsüber. Diese Tatsache macht sehr deutlich, wie differenziert der Begriff des Kindertheaters im Kontext der Arbeit der Theaterwerkstatt Pilkentafel zu betrachten ist. Es entsteht Theater für Menschen - manchmal ausschließlich für Erwachsene, oft aber auch für alle Altersgruppen. Dass diese Uneindeutigkeit vor allem das erwachsene Publikum immer wieder herausforderte, schildert Elisabeth mit einem Schmunzeln: „Die Erwachsenen waren natürlich immer sehr davon überzeugt, dass diese gerade von ihnen besuchte Inszenierung auf keinen Fall etwas für Kinder sei. Und wir hatten nur wenige Stunden zuvor die begeisterte Schulklasse verabschiedet.“
Torsten formuliert es im Gespräch so: „Der zentrale Punkt ist hier immer wieder die Art und Weise der Auseinandersetzung bei der Entstehung eines Stückes. Wir entwickeln nicht mit der Haltung ‘das erklären wir jetzt mal‘, ‘das vermitteln wir euch jetzt‘, ‘wir bringen euch mal bei…‘, etc., sondern setzten uns selbst ernsthaft mit dem gesetzten Thema, oder einer Musik, oder einem Objekt (etc.) auseinander, und mit dieser Auseinandersetzung gehen wir in Kommunikation mit dem Publikum. Uns so geht das, das etwas gleichermaßen für Kinder und Erwachsene sein kann. Sie dürfen das nur nicht gleichzeitig gucken!“ ergänzt er.
Theater für Menschen
Wie bereits in anderen Inszenierungen erprobt (z. B. Waschtag, Jacke wie Hose), bildet die Musik in Form einer von Matthias Kaul auf Grundlage der Mondschein-Sonate und weiteren Klavierwerken entwickelten Klang-Collage das ‘Skript‘ der Inszenierung. Dieser minutiöse Ansatz in Kombination mit ausgefeilten Bewegungs- und Akrobatikabläufen machte die Entwicklungsarbeit sehr aufwendig: „Wir haben pro Tag zwei Minuten der Inszenierung geschafft, auch wenn wir mehr als 8 Stunden geprobt haben.“
Musik und Akrobatik
Die Theaterwerkstatt Pilkentafel ordnet die Inszenierung auf ihrer Homepage selbst wie folgt ein: „KALLI KIPPT ist ein gespieltes Soziogramm. Es zeigt, wie die Gesetze von Annäherung und Ausschluss, Macht und Unsicherheit, Beobachtern und Handelnden das Verhalten – in diesem Fall der Stühle – bestimmen. Positionen im Raum sind ja immer auch Positionen zu den Anderen. KALLI KIPPT ist komponiertes Theater. Der Aufführung liegt die Mondscheinsonate von Beethoven zu Grunde. Mit ihr fängt es immer wieder an, um dann aber von Bach bis Rolling Stones und mechanischem Klavier fast alles zu verarbeiten. Die Form der Sonate mit ihren drei Sätzen spiegelt sich auch in der Gesamtkomposition des Stückes. KALLI KIPPT ist Tanztheater von Schauspielern.
KALII KIPPT ist Erzähltheater ohne Worte, denn es erzählt die Geschichte der Stühle, es erzählt von Kalli, der immer ein Stuhl ist und mal von dem einem, mal von dem anderen Schauspieler besetzt wird, und es zeigt die Geschichte der zwei Männer, die mit den Stühlen und miteinander spielen.
KALLI KIPPT ist ein Theatererlebnis für Menschen fast jeden Alters, denn seine Abstraktion ermöglicht es, eigenen Geschichten und Erfahrungen wieder zu entdecken. Es funktioniert für Kindergartenkinder aber auch noch in der 6.Klasse. KALLI KIPPT ist nicht zuletzt auch Theater, das Spaß bringt. Es ist akrobatisch, musikalisch, schnell, mit wenig Text und viel Bewegung, voller Überraschungen und Witz.“
Kalli kippt ist…
Fotos
Beziehungsdreieck
Die Stühle erhalten Charaktere, durch die Art wie sie von den Schauspielern Kian Pourian und Torsten Schütte getragen werden und wie sich ihnen genähert wird. Auch die Art des Gehens und akrobatische Elemente bilden die Grundlage des Dreiecks Bewegung - Raum - Objekt.
Hinten auf der Bühne befindet sich eine schwarze Stellwand, dahinter eine irre Logistik aufgereihter und übereinander gestapelter Stühle, die schließlich die anfangs leere Spielfläche bevölkern werden. Die Darsteller tragen blaue Kostüme mit aufgezeichneten Kragen und Knöpfen. ("Als hätten wir als Personen selbst noch keine scharfen Konturen.“ (Torsten Schütte))
Umsetzung
Eine Sprachebene mit Sprüchen zu den Stühlen und Gespräche im Off über die Stühle prägen die einzelnen Charaktere weiter aus. Wie in zahlreichen Inszenierungen der Pilkentafel bilden fixierte Spielregeln und die Taktung auf Musik die Grundlage für eine große Freiheit in der Ausgestaltung des Spiels. Torsten Schütte und Kian Pourian performen zwei durch ihre Schminke nahezu stummfilmartige Charaktere, die kaum auf den Stühlen sitzen, sondern sie durch ihr Spiel lebendig werden lassen.
Wichtigste Spielfrage ist: Kann man NEU anfangen, Geschehenes ungeschehen machen? Erzählerisch dargestellt werden Ereignisse und Situationen, die dazu führen, dass Kalli, das Kind kippt. Dieser Punkt des Scheiterns führt zum Abbruch der ‘Erzählebene‘ und es wird neu begonnen – in der Hoffnung, dass Kalli nicht kippt. Aus diesen Wiederholungen mit Varianten, die aber immer wieder dazu führen, dass Kalli doch kippt, entsteht ein großes Chaos, an dessen Ende Kalli fliegt und Purzelbäume schlägt. Die Musik verändert sich, eine neue Erzählung entsteht. Sie enthüllt, dass die Wiederholung des Augenblicks nicht funktioniert.
Kontrolliert ins Chaos
Einmal durch die Geschichte der Klaviermusik
Matthias Kaul hat für diese Produktion eine ausgefeilte Musikcollage entwickelt. Jeweils mit Beethovens Mondschein-Sonate beginnend, mäandert die Klaviermusik en passant von Bach zu John Lennon bis hin zu hoch experimentellen Sounds.
Musikcollage
Die Grundidee zu diesem Stück ist eine Familienaufstellung mit Stühlen, der Versuch, eine Geschichte mit und durch Stühle und ihre Position im Raum zu erzählen. Aufbauend auf Improvisationen und von Elisabeth gestellten Aufgaben, zunächst mit Steinen, dann mit Stühlen, entsteht die Produktion.